Lenz - ein Wahnsinn!

 

 

     "Den 20. ging Lenz durchs Gebirg." So lapidar und doch verheißungsträchtig beginnt eine der schönsten Novellen der deutschen Literatur. Lesen wir auch nur ein wenig weiter, werden wir von einer Bildermacht und einem suggestiven Stil ergriffen, die zur imaginativen Hineinversetzung verführen, wenn nicht gar zwingen. Hier geht ein Verlorener, Gott und der Welt Entfremdeter, einer, "dem in dieser Welt nicht zu helfen war." Und ich kann mit Lenz als Zeitgenosse sprechen, mich ohne Abfederung durch die mittlerweile beträchtlich angewachsene Sekundärliteratur unmittelbar durch den Text erschüttern und schütteln lassen. Dokumentiert dieser ja auch den Umbruch zur Moderne, den Abbruch aller Orientierungsmarken, die metaphysische und soziale Obdachlosigkeit des Heute. Und es wird die ganze menschliche Gefühlsskala vom erhabensten kosmischen Eingestimmtsein bis hinunter in die depressivsten Niederungen angeschlagen.

     Gerne wird die Novelle als Pathographie, als dichte Beschreibung eines schizophrenen "Falles" gelesen. Aber vielleicht sollten wir uns einmal wie Don Quijote auf den Kopf stellen, um die Dinge andersherum zu sehen. Dichtung lädt ja immer auch zur Verfremdung gewohnter Sehweisen ein. Anti-psychiatrisch gedacht, handelt es sich bei der Zuschreibung "schizophren" ja um eine ausgrenzende Etikettierung mittels derer eine Patientenkarriere nachgerade initiiert und beschleunigt wird. Und der gute Oberlin kann sich letztendlich auch nur mit dem "Abschub" Lenzens behelfen. Dabei bleibt immer die Frage zu stellen, wer denn eingentlich "gesünder" sei: die Psychotiker abschiebende und gnadenlos hinter Schloß und Riegel totaler Institutionen einsperrende "Gesellschaft" - oder der Weggesperrte mit seinem "unangepaßten", indes reichen Innenleben. Vielleicht hat der Lenz'sche "Wahnsinn" Stellvertreterfunktion, ermöglicht ihn zum Sprachrohr werden zu lassen, das ganz sinnige Aperçus von sich gibt, die seinerzeit ohne diese Maske als frivol, gottlos oder blasphemisch gegolten hätten. Lenz ist ja auch Rebell gegen väterliche Zumutungen und religiöse Bevormundung.

     Er hadert mit dem alttestamentlichen und grundmenschlichen Problem der Vereinbarkeit eines gütigen Gottes mit dem Leiden. Und kehrt sich in seiner Ausweglosigkeit in einem prometheischen Generalstreik ab von jeder religiösen Sinngebung. "Aber ich, wär' ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten ... ." Das ist der Abfall. Der wird er dann auch für die Gesellschaft, die keine allzu radikalen Um- und Anstöße verträgt. Es beginnt die endgültige Abspaltung. Lenz - ein Dissident aus jeder Art von konventionsgebundener "Normalität".

     "Die süßen Früchte des Geistes" sind ihm verdorrt und verdorben. Die Geliebte hat ihn heillos "verstoßen". Er steht vor dem Nichts. Aber nicht im Sinne einer mystischen Fülle, sondern vor dem Nihil schlechthin. Ein schauderhafter, infernalisch durchtönter Seelenabgrund tut sich hier auf. Ni Dieu ni maître. Die "Entzauberung" per se: "... die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuren Riß." Indolent, ganz allein steht er nun da. In einer verzehrenden Einsamkeit, die nicht mehr Quelle ist, sondern ödeste Wüste. Die Entfremdung endet mit dem apathischen So-hin-Leben, eigentlich einer Anklage gegen diesen Zustand, dessen Gegenteil die ursprüngliche Lenz'sche Ab-Sicht war. "Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte, desto mehr drängte es ihn, eine Glut in sich zu wecken; es kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo alles in ihm sich drängte, wo er unter all seinen Empfindungen keuchte. Und jetzt so tot." Ein Lebenshungriger, der zum Lebensverlierer wird: "... er tat alles wie es die andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm." Sollte sich hier nicht jede/r kurz einen Spiegel vorhalten lassen? Der Ennui, der Cafard, die existentielle Hohlheit werden ja heutzutage mit kinetischem Taumel, im durchs-Leben-Rasen, mit Bilder- und Reizbeflutung unentwegt überspielt. Wie viele Dinge tun wir aus Langeweile? Die Stille schlägt Lenz in einen Höllenlärm um - auch dies Reflex unserer Zeit? Trotz seines Alters von mehr als zwei Jahrhunderten halte ich den "Lenz" für geradezu erschreckend aktuell. Ob nicht in uns allen ein klein wenig vom Morbus Lenz steckt? Wie dem auch sei - anregen und anstecken kann der Text auch heute noch. Und ein wenig Querlesen tut ihm und uns gut. Übrigens haben das die alten Inder schon gewußt: hin und wieder einen Kopfstand machen, ist der Gesundheit durchaus zuträglich.  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erschienen in:

Kultur. Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 13/3, April 1998, 54