"... denn seinen jovialen Gastgebern fehlt die Distanz, die er besitzt, um sich und sie zu  sehen. Der Fremde verschanzt sich hinter diesem Abstand, der ihn von den anderen ebenso wie von sich selbst ablöst und ihm das stolze Gefühl gibt, zwar nicht im Besitz der Wahrheit zu sein, aber da zu relativieren und sich zu relativieren, wo die anderen in den Rastern der Einwertigkeit gefangen sind. ... In den Augen des Fremden haben die, die es nicht sind, kein Leben: sie existieren gerade nur, prachtvoll oder kümmerlich, aber außerhalb des Rennens und daher beinahe schon in Leblosigkeit erstarrt."

 

                                                     Julia Kristeva

 

 

"Brief eines Emigranten

 

 

Ich krieche mühsam hierher,

setze mich geräuschvoll hin,

strecke meine Gefühle von mir,

nehme viel Platz ein -

und werde nicht benötigt."

 

                  Said

 

 

 

 

Wolfgang Herbert

 

Tagträume eines Exilanten

 

Der Exilant - so mag der freiwillig ins Exil Gegangene hier heißen - ist ein ewiger Heimkehrer, in seinem Inneren und bei den in Jahresabständen statthabenden Rückreisen

- und dennoch hat er keinen bestimmbaren Ursprung und kein bestimmtes Ziel mehr.

Nur noch Luftwurzeln - und die kann er einschlagen, wo er will.

Seine Seele schillert wie beharrlich geschliffenes Perlmutt,

wie das Meer, das alle Himmelfarben aufnehmen kann.

Heimatgefühl, ja das hat er: in seinem Lesezimmer, in Bibliotheken, Kaffeehäusern, auf Bahnhöfen und im Wind.

 

Er kehrt zurück in seine Heimatstadt - wie ein Korsar, aber ohne Triumphzug, ohne Empfang,

die Berge und der See muten ihn an wie eine neue und doch unendlich vertraute Kulisse: das gleiche Schauspiel läuft ab - ohne ihn.

 

Jetzt heißt er nicht nur Wolfgang, er geht tatsächlich wie ein struppig und grau gewordener, einsamer Wolf, scheu, unsicher ob seine Bewegungen stimmen ... .

Und er streicht immer zuerst an den See, um ihn zu begrüßen und seine treu gebliebene Witterung aufzunehmen - und die Möwen schreien auf Alemannisch genauso wie auf Japanisch.

 

Er geht durch die Kaiserstraße und trifft alte Gesichtsbekannte, mit denen er nie gesprochen hat und möchte ihnen zurufen: "Hallo, wie geht's, wielange habe ich euer Antlitz nicht gesehen!" Aber er bleibt stumm und unerkannt.

 

Und macht eine Entdeckung: Die sogenannten Gastarbeiter sehen ihn ungewohnt lange an, ihre kantigen Gesichter werden weich, sie grüßen ihn.

Sie erkennen ihn. An seiner Umsicht, Ängstlichkeit und an seinem Stolz.

Sie haben dasselbe verletzliche Schimmern in den Augen, hegen dieselbe manisch-depressive Wehmut, verstecken dieselbe Glut im Blick.

Ja, der Exilant kennt inzwischen alle Blicke, denen sie täglich ausgesetzt sind,

alle, die bewundernden, die verachtungsträchtigen,

die anhimmelnd-verträumten und die erniedrigenden,

die bannenden und die aufsaugenden,

er hat gelernt Liebe und Haß aus kleinsten Signalen abzulesen,

gelernt ungesichert und empfindlich sein zu dürfen.

Er hat Emigrantenaugen.

 

Der Mann am Bahnhof, am Fahrkartenschalter, dasselbe Gesicht wie vor Jahren, ein wenig tiefere Gravuren, dieselben routinierten Bewegungen beim Kartendrucken, seine Zeit ist stehengeblieben, tausende Züge und leere Jahre sind an ihm vorbeigefahren.

 

Und immer wieder Gesichtsmetamorphosen, ehedem Jugendliche zeigen heute ausgeprägte, desillusionierte Mienen,

Erschrecken bei Gesichtern, die dramatisch gealtert,

Erstaunen bei denen, die gleichgeblieben sind.

 

Er hört Kirchenglocken, und alles ist herbeibeschworen: die Geborgenheit, das metaphysische Zelt, das den heute religiös Obdachlosen einst beschirmt hatte, die Sündenangst, das Hochgefühl nach der Volksschulbeichte, die Onanienöte, der enervierende priesterliche Singsang, die Höllenfurcht, die Unausweichlichkeit der Flucht - die Befreiung.

 

Sonnenblitz - die Frau, die frenetisch Fenster putzt,

er duckt sich und weiß, daß er wieder Asyl suchen muß.

 

In Wien, seinem ersten dekadelangen Probeexil, seine alte Wohnung atmet seine Atmosphäre, lauter zerronnene Vetrautheiten wie die Krähenrufe am Morgen, das Beisl um's Eck, die Alten im Park, der Zentralfriedhof. Und in der Straßenbahn - er kommt aus dem Land, in dem alles automatisch geht, sogar Taxitüren, und fast wäre er boshaft versucht zu sagen, auch die Menschen - wartet er an der Haltestelle bis sich die Türflügel öffnen mögen, wartet zu lange und zuckt zusammen, als er angeherrscht wird: "Heast, do muaß ma auf'n Gnopf druggn, Oida!" - Rüpel sind übrigens prozentuell gleichmäßig über die Erde verteilt - Weis- und Dummheit auch.

 

In Japan wohnt der Exilant nun in einer Hafenstadt, sieht täglich die Schiffe hinausziehen, feiert permanent mit ihnen Abschied und ist darin gesammelt da, ganz präsent.

Er läßt seinen Blick über das Meer schweifen, und plötzlich hat es die Farbe und das Aroma des Bodensees und die Wolken haben dasselbe Urweiß wie jene über den Schweizer Bergen. Immer wieder irre, spontane, detailscharfe Flashbacks, die sich wie Visionen über seine Reverien lagern und diese doppelt belichten.

Seine Kindheitsbilder sind tief in ihn eingelassen, in seine Seele tätowiert,

seine Vergangenheit bleibt wie durch ein umgekehrtes Teleskop jederzeit schaubar:

weit weg und doch diamantklar geschnitten.

Niemand erlebt eindrücklicher Vergänglichkeit, niemand unentrinnbarer die Suche nach der verlorenen Zeit, niemand hat mehr Bildervorrat, der in alles Gesehene einströmt, niemand mehr Farbe.

 

Schwerkraft spürt er nur in Alemannien,

hier darf er hilflos spielen und ausgesetzt sein,

sich sogar erlauben jemanden spontan anzulächeln und dieses Lächeln auf das andere Gesicht zu zaubern.

Er ist wieder der Fremde. Eindringling und Botschafter zugleich.

 

Das Mädchen neben ihm in der Bahn liest eine deutsches Buch. Er überlegt sich, ob er sie ansprechen soll, und in seinem Kopf erzählt er ihr seine Geschichte. Ja, hier sieht jeder sofort, daß er eine Geschichte zu erzählen hat, über seine resignierte Liebe zu einem fiktiven Asien, das seit seiner Jugend sein inneres Eiland war, voll von mystischen Seelenfreunden, Ruhe und Licht. Und heute in Zipangu, dieses geschäftige Quirlen von Menschenmassen, tote Tunnelblicke, diese kollektive Wahrnehmungsverengung auf Wachstumszahlen und Börsenkurse, ach, Asien, Du hast Deine Würde an den Monetenmoloch verschleudert. Er erzählt von der liebevollen Trauer, die ihn angesichts dieser Sinnberaubung beschleicht - und daß er, von unbezähmbar kontemplativer Natur, sich damals in seinem Geburtsländle schon fremd gefühlt hatte inmitten der "schaffa, schaffa"-Geschäftigkeit, er, der manische Leser, schon in seiner Heimat ein Ländlebruttosozialproduktschädling war, verdächtigt der vorsätzlichen Bummelei, des lästerlich schönen Nichtstuns, des Trödlertums - dabei hat er Welten erkundet in seinem Kopf, aber nur Gereiztheit erzeugt ob seiner demonstrativen Mußeseligkeit.

Aus Alemannien nach Japan gehen - vom Regen in die Traufe, biographischer Zufall beruhend auf einer Mentalitätsverwandtschaft, nein, deplaziert fühlte er sich hier wie dort. Er war ein Doppeldissident, ihm konnte nichts mehr was anhaben, er sah sie überall: Menschen, hetzend, geldbehext, arbeitsverbissen, verschwendete Leben ... hüben wie drüben.

 

Denn noch eines hat er gelernt: nirgends mehr mitspielen zu müssen.

Er ist ein passionierter und nachsichtiger Zuschauer geworden.

Er erzählt von seinem Nomadenglück und unbändigen gitano-Stolz

und daß er zwei Leben in einem lebe.

 

Er riecht die Schönheit der neben ihm Sitzenden, spürt ihre Wärme, Zuneigung, ja, jetzt neigt sie ihm ihren Kopf zu. Der Zug bleibt stehen, sie ist weg, er würde sie nie wieder sehen und hat doch mit ihr seine Biographie geteilt - ohne einen Laut von sich zu geben.

 

Und er träumt in Asien über Europa

und in Europa über Asien

und eigentlich nur von seinem Selbst

 

Bald hinterbleibt in beiden Welten gleich viel:

Freundschaften, Aussichten, Spaziergangsrouten, Zigarettenstummel,

verwischte Spuren. 

 

Und sie werden immer weniger, die Menschen, die beide seine Hintergründe wahrnehmen können.

 

Soviel zurückgelassen - und nirgends nichts verloren haben.

 

Beim Einschlafen kommen wieder seine Gefährtinnen, die Bilder, er sieht das fette Grün der Nachbarwiese, er riecht die Erde und den Löwenzahn, ja es ist "Willam's Wiese", die hier duftet und auf der er Kinderjahre verspielt hat, er schaut die Sonnenuntergänge über dem Bodensee, dieses wiederkehrende und immer anders wundersame Vergeudungsfest des letzten Lichts,

und er sagt sich:

 

"Exil, Zuflucht finde ich nur in mir

fern - das bin ich mir selbst."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erschienen in:

Wolfgang Hermann (Hg.): Kein Innen. Kein Außen. Texte über Leben in Vorarlberg. Bregenz: Ruß-Verl. 1994, 9-12