Wolfgang Herbert


Der Tod und die Schönheit.

Ehrenamtlich im Hospiz


“… vivere tota vita discendum est et, quod magis fortasse miraberis, tota vita discendum est mori. … zu leben aber muß man das ganze Leben lang lernen und, worüber du dich vielleicht noch mehr wunderst, man muß das ganze Leben lang lernen zu sterben”. (Seneca)


Alles begann mit einem Zeitungsartikel und einem Telefonanruf. Für letzteren musste ich schon ein wenig Mut zusammennehmen. Es ging um ehrenamtliche Arbeit in einem Hospiz. Ich bin – wiewohl langzeitresidierender – so doch: Ausländer, Mann in mittlerem Alter. Damit ein vom “normalen” Profil Ehrenamtlicher in Japan Abweichender: wie mir auch telefonisch gleich erläutert wurde: jung sei ich, mit meinen 48 Jahren, die meisten Freiwilligen sind: ältere und alte Hausfrauen mit erwachsenen Kindern. Was ich beruflich mache, werde ich gefragt. Universitätslehrer, Deutsch unterrichte ich und Soziologie. Ursprünglich sei ich Philosoph und Religionswissenschaftler, gebe ich zur Antwort, als Auskunft über meine “Spezialgebiete” erbeten wurde, mit Hospiz und Sterbebegleitung befasste ich mich seit ein paar Jahren, Schulungsseminare für spirituelle Betreuung hätte ich etliche absolviert, füge ich wohl ungebeten hinzu, aber ich möchte mich ja in einem Lichte präsentieren, das mich als für ehrenamtliche Hospizarbeit geeignet ausweist. “Ich fürchte, sie sind überqualifiziert”, kommt die klippklare Replik, “solche Leute halten im Regelfalle nicht lange durch.” Ehrlichkeit und Offenheit sind im Hospizwesen und in der für dieses charakteristischen Teamarbeit erwünscht. Eine gute Basis und Lektion Nummer eins, denke ich mir. “Wir sind alle simple Hausfrauen oder fast alle: ein Mann, ein Rentner, ist unter den Ehrenamtlichen, die Arbeit, die wir machen ist so gelegen, dass sie im Prinzip jeder und jede machen kann …” Ich betone, dass ich gerne ein braves Mädchen für alles sein werde, ich sei ein völlig normaler Mensch (wie war das mit der Ehrlichkeit? - schließlich attestieren mir alle Bekannten einen Schuß Verrücktheit) und hätte keinerlei erhabene Ansprüche an “spirituelle Betreuung” oder dergleichen … Gut, ich möge doch zu einem Einstellungsgespräch vorbeischauen.

Im Grunde hatte ich seit längerem mit dem Gedanken gepielt, als freiwilliger Mitarbeiter in einem Hospiz aktiv zu werden. Die Hospize oder Palliativstationen von Ärzten, die ich kannte, waren alle zu weit weg, zudem hatte ich Bedenken, ob ich als Kaukasier nicht die Belegschaft verschrecken könnte, wie ich so eine Tätigkeit zeitlich unterzubringen dachte neben meiner universitären Arbeit usw. Nun las ich in einem Zeitungsartikel über die Ehrenamtlichen im Rokkô-Spital, in dessen unmittelbarer Nähe ich wohne. Als Regel gelte ein vierstündiger Freiwilligeneinsatz pro Woche, stand da zu lesen. Das sollte sich ausgehen, dachte ich mir, weshalb ich mir ein Herz gefasst und mit der Zuständigen telefonisch Kontakt aufgenommen hatte.

Eine Woche später gehe ich mit leichtem Herzklopfen zum Spital, in dessen Palliativstation die Koordinatorin der Ehrenamtlichen, mit der ich telefoniert hatte, auf mich wartete. Ein Lift führt mich in den 5. Stock des Neubaus: neben dem entsprechenden Knopf ist ein mit “Kanwa kea byôtô” beschriftetes Schild: “Palliativpflegestation” also. Ich steige aus und befinde mich in einer geräumigen und tageslichtdurchfluteten Lobby. Vor mir eine Art Rezeption, schon kommt eine ältere Dame auf mich zu, begrüßt mich auf gewinnende Art und führt mich in das Zimmer der freiwilligen Mitarbeiter. Das hingegen ist relativ klein. Ich werde gebeten einen Fragebogen auszufüllen. Es geht um persönliche Daten, aber auch um: Hobbies, besondere Fertigkeiten, Erfahrung als Ehrenamtlicher u.a.

Sie sieht das Ganze durch, wir sprechen über meine Familie, ja, mein Sohn ist ausgeflogen, studiert in der Schweiz Jazz-Gitarre, daher hätte ich jetzt ein wenig Zeit für ein Ehrenamt. In die Berge ginge ich gerne, ja, mit dem Hund, füge ich hinzu, mit Tieren könne ich gut umgehen, wenn jemand ein Haustier auf der Station halte, ich könnte mit dem dann spazierengehen oder so … momentan sei kein Tier da, aber vor kurzem sei noch ein Vogelkäfig in einem der Zimmer gewesen: ganz der Hospizidee entsprechend, nach der die “letzte” Umgebung so häuslich gestaltet werden mag wie möglich.

Als nächstes erhalte ich einen Leitfaden für freiwillige Mitarbeiter, der einige praktische Tipps gibt wie: dezente, Bewegungsfreiheit erlaubende Kleidung, keine aufdringlichen Parfüms und zuviel Schminke etc. und den Inhalt der vorgesehenen Arbeiten ausführlich beschreibt. “Ich werde ihn eingehend studieren”, gebe ich mich gleich eifrig. Die Koordinatorin lacht, Studium sei da nicht nötig, das sei nur mal eine Zusammenstellung der anfallenden Dinge, ich lernte das schon on the job – also Probieren geht über Studieren, und genau das wolle ich gerne tun, betone ich noch einmal. Wann ich beginnen könne, will sie wissen, meinetwegen schon morgen, entgegne ich – und schon bin ich eingeteilt: Freitag nachmittag 13.00 h – 17.00 h, ich möge eine halbe Stunde früher kommen, um die Freiwilligen der Morgenschicht kennenlernen zu können und die nötigen Neuigkeiten und aktuellen Anforderungen zu erfahren. Schon wird ein Namensschild für mich verfertigt und mein Name in die Liste der Helfer eingetragen. Ich hatte schon leise Bedenken gehegt, ob ich aufgenommen würde oder nicht: und jetzt war ich flugs und umstandslos eingegliedert in die Gruppe der ungefähr 35 freiwilligen Mitarbeiter. Freude und Vorfreude erfüllten mich.

Die Koordinatorin gibt mir eine kursorische Führung durch die Station: zwei rundgangartig angelegte lange Gänge, die außen von den Patientenzimmern flankiert sind. In der Mitte befindet sich eine große Küche mit Herden, Geschirrschränken und einer für japanische Verhältnisse ziemlich gigantischen Abwasch. Die Küche ist beidseitig zugänglich, ein Durchgangsraum gewissermaßen. Auch Angehörige dürfen hier kochen, werde ich unterrichtet. Außerdem gibt es noch eine Wäschekammer mit Waschmaschinen und Toiletten für das Personal. In der Verlängerung der Lobby ist ein großer Aufenthaltsraum mit Klavier und anderen Musikinstrumenten, Sofas, Esstisch, Kaffee- und Teegeschirrschrank und zwei Webstühlen.

Hinter der “Rezeption” befindet sich per Glaswand einsichtig, der Raum für die Ärzte und Krankenschwestern. Ein junger Arzt mit Kinnbart hat heute die medizinische Betreuung im Griff und eine nicht mehr ganz so junge, adrette Krankenschwester die pflegerische. Ich werde ihnen vorgestellt, sie sind sehr sympathisch, die Veteranin mit einer opulent kurvigen Figur, als wäre sie einer indischen Tempelfassade entstiegen, heißt mich willkommen im Team, ich würde gewiss einen frischen Wind mitbringen, meint sie – überhaupt bin ich in einer Weise empfangen worden, die mich alle Bedenken wegen Ausländersein vergessen ließen. Auch die Schwestern und freiwilligen Mitarbeiterinnen empfangen mich offen und freundlich, unter letzteren sind es heute eine hübsche Mutter dreier Kinder in vermutlich meinem Alter und eine ältere Frau, die in der Nähe wohnt und deren Gesicht mir bekannt vorkommt. Eine junge Ehrenamtliche ist täglich und ganztags auf der Station: eine mollige und drollige junge Frau, sehr natürlich und umgänglich wirkt sie auf mich.

Eine der Krankenschwestern will mich noch schnell einem Patienten vorstellen, einem ehemaligen Lehrer in einer Nachhilfeschule. Er sei schlecht von Gehör, aber wolle ein wenig Englisch parlieren, ich werde in sein Zimmer geführt. Er liegt im Bett, hohlwangig und mit einem Bart wie ein konfuzianischer Gelehrter. Wie er mich erblickt, streckt er mir seine knochige Hand entgegen, die ich kurz drücke und halte. Seine Augen funkeln lustig und er lächelt breit, ich habe den Eindruck, dass er sich echt freut, mich kennenzulernen. Was ich hier machte, fragt er, ich sage: “Ehrenamtlicher” und die Schwester ergänzt: “Morgen kommt er wieder, da können Sie dann länger mit ihm reden.” Er klammert sich richtiggehend an meine Hand und sieht mich lange an. Dann läßt er los und senkt seinen Kopf ins Polster, ich verabschiede mich und gehe mit der Krankenpflegerin hinaus.


6. Juni 2008


Anderntags komme ich mittags wie verabredet zurück: kaum aus dem Lift gestiegen, werde ich von Schwestern und Ehrenamtlichen namentlich begrüßt. Überall werde ich vorgestellt: die freiwilligen Mitarbeiterinnen der Vormittags- und Nachmittagsschicht sind tatsächlich alle ältere Frauen so um die sechzig, alle ziemlich energisch. Ich bekomme einen Tee, Frau Yamada1, die “fixe” ehrenamtliche Helferin, macht mich mit meiner ersten Aufgabe bekannt: an der Türe hängt ein Plan aller Zimmer, die nach Blumen benannt sind: die Namen derer, die sie belegen, sind mit Bleistift eingetragen: ich erhalte eine verkleinerte Kopie der Liste und bekomme den Auftrag, die Namen der Patienten in die Kästchen der Zimmer einzutragen. Aus Gründen der Wahrung der Privatsphäre sind keine Namensschilder an den Zimmern angebracht. Verständigen konnte man sich also entweder mit: auf dem “Enzian” oder dem “Löwenzahn” oder der “Hyazinthe” sei ein Leintuch zu wechseln oder eben: Frau/Herr Sondundso hätte gerne einen Tee etc. Die anderen Freiwilligen tauschen auch schon Nachrichten miteinander aus, die Vormittagsleute ziehen ihre Schürzen aus, die Nachmittagsleute binden sich welche um in schickem Pink und Namensschild dazu: ich bin bereit.

Dann sitze ich mit den Nachmittagsdamen und Frau Yamada am Tisch, sie prosten mir mit ihrem Tee zu, schneiden Kuchen an, der am Vormittag gebacken worden war und später als Jause verteilt werden sollte. “Jetzt machen wir eine Willkommensparty”, sagt Frau Shimomura, eine kleine quirlige Person. Sie lachen, ich auch, danke, sage ich und fühle mich wirklich willkommen.

Als nächstes stellt die andere Helferin ein Tonbandgerät auf den Tisch: die Oberschwester hat hier zu jedem Patienten ein Tagesverfassungsbild daraufgesprochen: wir hören das Band ab und machen uns Notizen auf dem Zimmerplan. Edelweiss hat Gehprobleme und fährt nun im Rollstuhl, Hortensie wird häufig von der Tochter besucht, Kirsche hat gravierende Schlafprobleme, fühlt sich einsam und irrt nächtens auf dem Gang auf und ab, Pflaume sei heute munter und guter Dinge, für jene wurde die Schmerzmitteldosis erhöht, sie habe wenig Appetit, diese sei nach Oberschenkelbruch völlig bettlägerig, Herr N. war auswärts auf einer Therapie, sei aber wieder zurückgekehrt wegen akuten Metastasen … so und ähnlich lauten die Nachrichten, auch Alter und Schlüsselpersonen (Ehegatten, Kinder, Verwandte etc.) werden genannt, jede Blume bekommt ihre Gestalt und Farbe! (Die Chefkrankenpflegerin sprach hingegen von den Betroffenen unter ihren Namen, die ich aus Diskretionsgründen freilich nicht nenne, auch Symptome und Diagnosen unterliegen der Schweigepflicht, die auch für die Ehrenamtlichen gilt).

Danach geht’s an die Arbeit: ich werde systematisch in sämtliche Tätigkeiten eingeweiht. Vorerst werden alle Blumenvasen in die Küche gebracht. Dort wird das Wasser gewechselt und die Blumen werden frisch zugeschnitten, welke Exemplare aussortiert. Eine Tätigkeit, der ich bestens gewachsen bin: noch gibt’s keine Probleme! Ich schnippsle an den Blumen herum, rieche an ihnen, stecke sie größengerecht in die Vasen und unterhalte mich dabei mit Frau Shimomura – auf Französisch, das sie in ihrer Freizeit lernt. Dann stellen wir die Vasen an die Rezeption und in die Lobby und kehren in das Volunteer-Zimmer zurück. Kurze Pause, dann wird die Jause vorbereitet: Kuchen aufgeschnitten, Tee gekocht, Geschirr und Tabletts vorbereitet. Dann wird der Imbiss serviert, ich begleite Frau Yamada und lerne dabei die nötigen Sprüchlein: beim Zimmer wird geklopft, dann kurz der Kopf hineingesteckt, das Auftragen der Jause angekündet bzw. sich erkundigt, ob diese erwünscht sei, dann wird serviert, gefragt, ob alles passe und der Rückzug angetreten. Manche Patienten sagen einfach Dank und scheinen Ruhe zu wünschen, andere lassen sich auf kleine Plaudereien ein, ein Mann zeigt uns seine Skizzen von Blumen, Gerbera, die in seinem Zimmer stehen, er sei kein Maler, sagt er, aber hier habe er so unendlich viel Zeit, er war Lehrer für Mathematik, hat etliche Sudoku-Bände auf dem Nachtkästchen liegen, aber auch Reiseführer!

Der Nachhilfelehrer mit dem chinesischen Literatenbart ist in der Lobby, wohin ich ihm auch seinen Tee bringe. Er scheint sich aufrichtig zu freuen, mich wieder zu sehen, die Krankenschwester von gestern ist wieder bei ihm und hilft bei der Kommunikation, indem sie meine Aussagen mit großen Mundbewegungen zum Lippenlesen wiederholt, ich wünsche guten Appetit, der Nachhilfelehrer legt seine Zeitung zur Seite, bemerkt, ich hätte schöne blaue Augen und eine expressive Mimik, wie das einem Ausländer zu eigen sei, er selbst sei nie im Ausland gewesen, aber, wenn er genese, würde er gerne mit mir nach Europa fliegen, gut, sage ich, die hübsche Schwester nehmen wir auch mit, beide lächeln wissend darum, dass es sich um einen schönen Wunsch handelt.

Nach dem Teeservice ist wieder kurze Pause. Eine Patientin wurde von einer Angehörigen zum Spaziergang ausgeführt, ihre Bettlaken sollten in der Zwischenzeit ausgewechselt werden. Also werde ich ins Bettwäschewechseln eingeführt, ich bekomme Einwegplastikhandschuhe und frischen Polster- und Bettüberzug und mache mich mit Frau Shimomura und Frau Suzuki, der anderen, eher stillen Helferin, ans Werk. “Das ist ja wie Arbeit im Hotel”, sage ich im Scherz, “kann ich alles bestens leisten, als Student habe ich in der Tat einige Jahre in einem Hotel – als Nachtportier zwar – gearbeitet”, füge ich hinzu. Auch die nächste Tätigkeit passt in dieses Profil: Teegeschirr abwaschen, abtrocknen und in den “Wohnzimmer” gerufenen Aufenthaltsraum zurückbringen. Ich bin dabei ziemlich aufmerksam und vorsichtig bei der Sache: das Teegeschirr stammt hauptsächlich aus Sachspenden, darunter finden sich teure, exklusive Marken, z.T. fehlende Tassen oder Untertassen eines bestimmten Musters künden vom üblichen Schwund durch Bruch, ich möchte da nicht an meinem ersten Tag schon einen Beitrag dazu leisten. Aber ich habe alles schön hingebracht und kann nun selber kurz bei einer Tasse Tee entspannen.

Unsere nächste und letzte größere Aufgabe: in allen Zimmern sind Thermosflaschen, in denen die Patienten ihren Wünschen gemäß Tee, Wasser oder Wasser mit Eiswürfeln aufbewahren. Diese Getränke gilt es nun neu nachzufüllen. Es ist schon nach 16.00 Uhr geworden, wir sammeln die Flaschen, schütten ihren Inhalt weg und erneuern ihn mit frischem. Der Tee wurde in riesigen Kannen geliefert, er wird in der Spitalsküche gebraut. Wieder klopfe ich an die Türen, frage, ob Getränkewechsel erwünscht sei, nehme die Thermosbehälter mit, fülle sie auf und bringe sie ins Zimmer zurück. Wir sind zu viert und es geht flott, schneller als sonst, wie mir Frau Shimomura erzählt. Sie ist die gesprächigste, beim Teetrinken plaudert sie aus der Schule: sie sei schon elf Jahre freiwillige Mitarbeiterin, eine Veteranin, wie ich bemerke, ihre Kinder sind aller außer Haus und verheiratet, sie habe viel Zeit und nach einer schweren Krankheit ihres Mannes, von der er aber geheilt wurde, verspürte sie den Wunsch als Ehrenamtliche tätig zu werden. “Auf irgendeine Weise wollte ich was ‘zurückgeben’, wenn man das so sagen kann, die Ärzte haben meinen Mann wieder hingekriegt und ich habe erlebt, wie es ist, wenn man mit dem Allerschlimmsten rechnet.” Auf “unserer” Station sei es Politik, den Patienten und Patientinnen offen Diagnose und Prognose mitzuteilen, der Chefarzt und sein Assistenzarzt seien ja auch jung, eine neue Generation, ihrem Mann sei seinerzeit die Krankheit nicht beim Namen genannt worden. Sie erzählt auch, dass im Augenblick alle 21 Betten voll seien, oft seien nur 15/16 Zimmer belegt, manchmal sei da ein Durchgang wie bei einem Zugvogelzug, aber viele eigentlich Moribunde seien Wochen, Monate, gar Jahre da, da baue sich eine Beziehung auf, manche kommen und gehen wieder nach Haus, nur um wieder zurückzukehren ins Hospiz, jeder “Fall” sei einmalig.

Unterdessen ist es bald 17.00 Uhr geworden, Zeit für uns, aufzubrechen. Als letzte Aufgabe steht noch aus, einen kurzen Tageseindruck in ein Journal einzutragen, ich schreibe hinein, dass ich schon ein wenig angespannt war, schließlich war das mein erster Tag, aber Entspannung stellte sich gleich ein, als ich merkte, dass die Tätigkeiten alle leicht bewältigbar waren und vor allem, weil ich von den “Kolleginnen” so umsichtig und liebenswürdig instruiert worden war. Danke, schrieb ich, und bis nächste Woche!

Eine Begegnung ging mir nicht aus dem Kopf: Frau Satô, Ende dreißig, die zwei schulpflichtige Kinder hat. Sie war schon völlig ausgemergelt und hatte einen schrecklich aufgeblähten Bauch, wie ein Biafra-Kind, dachte ich zunächst, und tatsächlich wirkte sie fragil und hilflos wie ein Kind, zugleich war ihre Haut wächsern und transparent wie bei ganz alten Menschen, ja sie wirkte vollkommen durchsichtig – diaphan bis in die Transzendenz. Als ich ihr die Jause brachte, bedankte sie sich auf die lieblichste Weise mit gefalteten Händen und wirklich spürte ich eine Dankbarkeit und Liebe, die von ganz woanders her kam. Ich war zutiefst berührt.

Aber ich machte noch eine Erfahrung: als ich kam, um den Tee in der Thermosflasche auszutauschen, fiel mir gleich wieder diese Durchsichtigkeit auf, auch ihre Dankbarkeit war so tief, dass ich fast verlegen wurde: als ich mit der frisch gefüllten Kanne zurückkam, bemerkte ich, dass sie eine Brille aufgesetzt hatte und mich eingehend musterte, vielleicht realisierte sie erst jetzt, dass ich Ausländer war oder sonst etwas, jedenfalls spürte ich eine Betretenheit, als ich aus dem Zimmer ging, mein Lächeln war nicht mehr natürlich, sondern in den Mundwinkeln verspannt: und sofort strahlte diese Betretenheit seitens der Kranken auf mich zurück, als würde ich in einen alles bizarr vergrößernden Zerrspiegel blicken. Die erste Begegnung mit dieser Frau hatte ich als ganz alltägliche Mensch-zu-Mensch-Begegnung wahrgenommen, ungeachtet ihres von einer tödlichen Krankheit gezeichneten Erscheinungsbildes, als ich mir aber meiner Verlegenheit beim nächsten Besuch bewusst wurde, war diese Unbefangenheit weg. Mein Eindruck war, dass im Umfeld des Hospizes und seiner Gäste jede Emotion mit einer schonungslosen Ehrlichkeit widergespiegelt wird: hier gibt es kein Versteck- und Verstellspiel mehr!


13. Juni 2008


Was Menschen tun können, um Menschen ein leichtes und friedliches Sterben zu ermöglichen, bleibt noch herauszufinden. Die Freundschaft der Überlebenden, das Gefühl der Sterbenden, daß sie ihnen nicht peinlich sind, gehört sicher dazu.” (Norbert Elias)


Kein Flöckchen einer Wolke am Himmel – azurblaue Weite, gleißender Sonnenschein. Ein Lüftchen weht, Kaiserwetter mitten in der Regenzeit! Kurze Ruhe zwischen den Regenstürmen. Wieder werde ich aufs Freundlichste begrüßt, die Freiwilligen vom Vormittag treffe ich zum ersten Mal, ich klaube mir eine Schürze aus einer Schublade und sage beim Umbinden: “Ich muss mich ja schick machen!” Sie lachen, nicht zuletzt, weil ich Osaka-Dialekt spreche. “Am Nachmittag muss es ja lustig hergehen”, bemerken sie. Ich hefte mein Namensschild an und kurz darauf hören wir schon das Band mit den Tagesdevisen ab. Diesmal gibt die Oberschwester Namen, Alter und Diagnosen von allen bekannt: praktisch alle haben Krebs oder bösartige Tumore, die meisten Metastasen, viele bis in die Knochen. Eine Patientin ist seit letzter Woche verstorben. Das Zimmer ist neu belegt. Wieder geht’s ans Blumenherrichten, dann ist noch Zeit bis zum Jausen-Austragen und ich staube die Bilderrahmen der Gemälde und Fotos, die in den Gängen hängen, ab, dann putze ich Flecken von den Wänden weg: Kaffee- und Teespuren vor allem. Wir sind so etwas wie Heinzelmännchen: unsere Arbeit soll den Krankenschwestern ihren Job erleichtern, erklärt mir Frau Shimomura in einer Pause, wir machen gewissermaßen das Service und den Haushalt: sorgen für eine propere Umgebung, fungieren als Kellner, Geschirrspüler und Wäscher. All das soll die Krankenpflegerinnen entlasten, die haben ja sonst die Schwerarbeit an den Patienten zu leisten. Sie sorgen für deren körperliches Wohl, baden sie, kümmern sich um ihre Ausscheidungen, kontrollieren die Medikation etc.

Heute gibt es Käsekuchen, der bei den Patienten sehr gut ankommt, einige bitten um Nachschlag, andere bedanken sich für den Genuß - ihr Lächeln ist ein Geschenk. Wir servieren den Imbiss zu dritt, indem wir uns die Zimmer aufteilen, d.h. ich sehe daher immer nur einen Teil der Belegschaft. Die junge Frau Satô mit dem aufgeblähten Bauch treffe ich diese Woche nicht, aber ich komme zum ersten Mal ins Zimmer eines mittelalterlichen Herren, der vielleicht aufgrund der Medikation ein aufgedunsenes Gesicht hat, auch hat er einen Schlauch in der Nase, er wirkt ein wenig unwirsch auf mich – vielleicht ist es ihm unangenehm, dass ich ihn in diesem Zustand wahrnehme, vielleicht reagiere ich überempfindlich auf jede Tonfallschwankung.

Nachdem wir alles aufgetragen haben, gönnen wir uns eine Pause mit einer Tasse Tee. Ich studiere noch einmal die Fotos des medizinischen Personals und bemerke, dass es noch zwei weitere Ärzte in der Abteilung gibt: den Stationschef und einen attraktiven jungen Psychiater, beiden bin ich noch nicht begegnet. 16 Krankenschwestern zähle ich, die im Schichtbetrieb Dienst tun, heute seien weniger da als geplant, weshalb die Diensthabenden alle Hände voll zu tun hätten.

Der konfuziusbärtige Lehrer ist zu einem Spaziergang ausgeführt worden, wir beziehen sein Bett frisch. Mit den gebrauchten Laken entsorgen wir auch eine große Windel, die herumlag – tja, am Lebensende geht’s in vieler Hinsicht wieder zurück in die Kindheit.

Dann machen wir uns wieder ans Getränke frisch Nachfüllen: heute herrscht eine ziemlich rege Besuchstätigkeit, in vielen Zimmern sind Angehörige, die mir die Thermosflaschen wie selbstverständlich aushändigen und neu gefüllt entgegennehmen - auch sie scheinen über einen Ausländer mit rosaroter Schürze nicht bestürzt zu sein. Obwohl es erst mein zweiter Tag ist, habe ich das Gefühl, dass ich die nötigen Handgriffe bald intus habe, was ich auch ins Journal der Ehrenamtlichen schreibe: allerdings kenne ich mich oft nicht so ganz aus und stelle noch ständig simple Fragen, füge ich hinzu. Nach der Verabschiebung gehe ich in ein mildes Abendlicht hinaus: übrigens liegt auf dem Weg zu meinem Haus rechterhands ein großer Friedhof mit vielen alten Kirschbäumen und stupa-artigen Grabmälern – Alter, Krankheit, Tod und Leid: diese Prämissen der buddhistischen Lehre und Charakteristika der conditio humana sind auch ganz physisch, sinnenhaft und sinnbildhaft in meiner Wohnumgebung in unmittelbarer Nähe! Die Sonne entzündet in den Gräsern, die zwischen den Grabsteinen hochragen, ein fluoreszierendes Grün.


20. Juni 2008


Die “Seelsorgerin” (auf ihrem Namensschild steht: chaplain und counselor) besucht uns zum Tee in unserem Zimmer. Sie ist eine groß gewachsene, aufgeweckte Person mit listigen Äuglein, hurtiger Zunge und einem leicht entfachbaren Lächeln. Sie lobt unsere Arbeit, begrüßt mich im Team und bittet um Anregungen. Sie schaut dabei insbesondere auf mich und die Ganzjahresvolontärin: “Neue Mitarbeiter haben auch einen frischen Blick. Bringt ruhig neue Ideen ein, eigentlich sollten alle Ehrenamtlichen stets überlegen, was sie noch anders oder besser machen könnten. Es gibt das Risiko, dass die ehrenamtliche Tätigkeit zu einem Job und einer Routine wird, das soll sie aber nicht, Originalität ist gefragt und nur weil etwas seit Jahren auf eine bestimmte Art gemacht wird, heißt das nicht, dass es deswegen gut sein muss.” Sie fragt mich nach meinen Eindrücken, ich gebe zurück, dass ich erst so kurz da sei, dass ich noch nicht viel sagen könne, geschweige denn, mit neuen Impulsen aufwarten könne, zuviel sei mir noch unvertraut, ich müsse ein wenig hineinwachsen: nur meine Zögerlichkeit von wegen Ausländer-Sein habe sich zerstreut, ich fühlte mich angenommen. “Ja, wir sind in Kôbe, da ist man an Ausländer gewöhnt”, beruhigt mich Frau Numata, die Seelenhirtin, “vor Jahren hatte wir einen Norweger auf Station, wäre schön gewesen, wenn sie da dagewesen wären! Viele Patienten haben auch Kinder, die im Ausland sind oder hie wie dort mit Nicht-Japanern vermählt sind, Sie sind hier sehr willkommen, keine Sorge!”

Nach dem Tee machen wir uns an eine Tätigkeit, die für mich noch neu ist: dünne, weiche Handtücher in “postkartengroße” Stoffflecken – so die Anweisung – zuzuschneiden: die werden dann im Einwegverfahren zum Hinternwischen eingesetzt. Ich bekomme eine mächtige Schere mit schwerem Griff und sitze nun als tapferes Schneiderlein da und schnippsle die Handtücher zu: die hart genähten Rändern müssen vorerst abgekappt werden, dann kommt die “Postkartengröße”. Die hat bei mir keine rechte Norm, aber die Kolleginnen trösten mich, das sei unwichtig, für das eine Mal reicht’s ästhetisch allzumal.


4. Juli 2008


Euripides: “Wer weiß denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist, und ob das Sterben nicht in Wahrheit Leben ist?”


Die 38-jährige Frau Satô mit dem aufgedunsenen Bauch liegt sehr apathisch im Bett. Sie hat einen Schlauch in der Nase und wendet ihren Kopf kaum, auch fällt ihr das Sprechen schwer. Als ich ihre Getränke auswechsle, bedankt sie sich, aber ausdruckslos und auf die Decke starrend. Sie wirkt noch durchscheinender als vor ein paar Wochen, wie Seidenpapier. Die Oberschwester hatte uns die Tageslosung auf Band gesprochen mit den Kurzberichten zu den einzelnen Patienten und Patientinnen, da hat sie erwähnt, dass das Wasser im Bauch von Frau Satô nicht mehr abgeführt werden könne, da der Tumor derart groß sei, dass er bei einer solchen Aktion angestochen würde. Ich weiß zwar nicht, wie sich dies medizinisch darstellt, aber ich stelle mir das schlimm vor. Frau Satô war sehr schwach, auch ihr angelisches Lächeln kostete zu viel Kraft, um es aufleuchten zu lassen. In der letzten Woche sind zwei Patienten verstorben, ein 60-jähriger an Pankreaskrebs Erkrankter und ein 66-jähriger Mann, der erst vor vier Jahren neu geheiratet hatte.

Wir haben ein Heft mit den Bewohnern im Zimmer der Freiwilligen: darin sind in Bleistift Name und Alter verzeichnet und Notizen, die laufend ergänzt werden und Auskunft über Vorlieben und Abneigungen geben: z.B. “mag sehr gern Kaffee”, “mag kein Yoghurt oder Gelée, dafür Gebackenes”, “wird oft von der Gattin und Schwiegertochter besucht”, “braucht einen Rollstuhl” etc. In den Arbeitspausen schaue ich nun zuweilen da hinein und schreibe mir eine Zusatzangabe auf meinen Zimmerplan.


11. Juli 2008


Durchlebe … diesen Augenblick von Zeit der Natur gemäß, dann scheide heiter von hinnen, gleich der gereiften Olive: sie fällt ab, die Erde, ihre Erzeugerin, preisend und voll Dank gegen den Baum, der sie hervorgebracht hat.” (Marc Aurel)


Frau Satô ist tot. So brutal klingt die oder es in Wirklichkeit. Sie ist verschieden am 7. Juli, an Tanabata, vulgo: “Sternenfest”, wie ich in einer Pause herausfinde. Wir haben ein Heft, das “wasurenagusa” (“Vergissmeinnicht”) betitelt ist. Darin finden sich Blätter zu den in der letzten Zeit verstorbenen Patienten und Patientinnen, Eintragungen der freiwilligen Helfer, Eindrücke, Begegnungen, Gespräche. Bei Frau Satô sind die Notizen sehr lapidar, sie war auch nur knapp einen Monat auf Station. Das Einlieferungsdatum steht da; 38 Jahre alt. Zwei Kinder in der Grundschule. Und, was ich noch nicht wusste: sie war Krankenpflegerin gewesen. Sicher war sie sich bewusst gewesen, wie es medizinisch um sie stand, beim letzten Male, als ich sie sah, wirkte sie sehr resignativ, aber auch ausgesöhnt. Ihr Lächeln werde ich nicht vergessen.

Tanabata ist ein Fest für Liebende. Ursprünglich auf einer chinesischen Geschichte und Tradition beruhend, fand es auch in Japan und Vietnam Verbreitung. Erzählt wird in verschiedenen Varianten die Geschichte vom sterblichen Kuhhirten (repräsentiert durch den Stern Altair, jap. hikoboshi) und der schöne Stoffe webenden himmlischen Prinzesssin (die Vega, jap. orihime), die in ewiger Liebe verbunden, aber durch die Milchstraße getrennt sind und sich nur einmal im Jahr, am siebten Tag des siebten Monats, treffen dürfen, um für diese kurze Zeit vereint zu sein. Für die Kinder von Frau Satô hat dieser Tag nun eine ganz neue Bedeutung: sie können jährlich in den Sternenhimmel sehen und sich sagen, dass da ihre Mutter weile, wachend über sie und wartend in ewiger Liebe.

Heute ist es heiß und wir sind sehr beschäftigt. Vier Todesfälle gab es insgesamt in der letzten Woche, zwei Zimmer sind frei und wir reinigen die Betten und Kühlschränke, stauben ab und wischen Nachtkästchen und Fensterbänke. Dann helfen wir einem Patienten beim “Umzug”. Wir tragen sein Gepäck in sein neues bergwärts gelegenes Zimmer, aus dem hohe, im Wind raschelnde Bäume zu sehen sind. Kleider, Schuhe, Schlapfen, Bücher, Zeitschriften, Radio, Schreib- und Malwerkzeug, ein Massagegerät und anderer “Kleinkram” mehr, wird von uns transportiert. Ich bin eher erstaunt, wie viele Dinge der Mensch auch auf seiner letzten Station noch bei sich hat.

Die Palliativstation ist klarerweise klimatisiert, aber manche Bewohner ziehen es vor, die Luft von draußen hereinziehen zu lassen, so schlägt einem am Gang immer wieder mal tropisch-heiße und dschungelfeuchte Luft ins Gesicht. Gerüche liegen da schwer in den Schwaden und bei Zimmern, in denen sich gerade die Krankenpflegerinnen nützlich machen, kann es da extrem nach Exkretion und Exkrementen riechen - aber auch das verfliegt. Der Handlungs- und Bewegungsraum der Kranken ist erbärmlich eng und beschränkt. Nach meinem freiwilligen Dienst gehe ich mit meinem Hund im Wald spazieren. Hohes Farn wirft ein filigranes Schattenspiel auf den gischtigen Bach, die Sonne läßt Tropfen glitzern und das Laub vom Vorjahr erglänzen. Danke, ruft es in mir, danke, dass ich hier frei herumspringen kann.


18. Juli 2008


Es ist heiß und schwül. Ich richte die Blumen her. Große langstielige Lilien und ein wenig Grünzeug. Ich schneide sie neu zu, wechsle das Wasser und trage sie zur Lobby. Wie ich sie auf die Rezeption stelle und noch einmal arrangiere, um ihre Schönheit voll zur Geltung zu bringen, bemerke ich, dass auf dem Sofa zwei Frauen sitzen, im Stuhl daneben ein alter Herr, alle still und in sich versunken. Im Zimmer der Ehrenamtlichen wird uns mitgeteilt, dass die Mutter der beiden eben verstorben ist. Ihr Leichnam wird wahrscheinlich noch bis morgen auf der Station liegen gelassen. Das Zimmer bleibt für uns zu.

Am späteren Nachmittag, als ich in den Aufenthaltsraum gehe, um das gewaschene Teegeschirr in den Schrank zu räumen, sitzen da die zwei Frauen, ihr Vater und ihre Ehemänner mit einem stämmigen Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose, der in einem sehr geschäftlichen Ton Formalitäten erklärt in bezug auf Totenschein-Ausstellung etc. Sehr viel Anteilnahme kann ich da nicht heraushören, die Frauen schluchzen leise, gleich in den ersten Stunden nach dem Ableben schon die Bürokratie, sehr trist so was, in der Tat! Frau Shimomura erklärt mir, dass dies ein Mann vom Bestattungsunternehmen sei, die beiden Schwestern hätten zu Lebzeiten ihrer Mutter kleine Meinungsdifferenzen ausgetragen: die ältere habe darauf bestanden, von wegen Begräbnis und dergleichen nichts zu reden und nichts zu unternehmen, schließlich lebe ihre Mutter ja noch. Die jüngere wollte schon mal Grabstätte und Zeremonien vororganisieren, wurde aber von ihren Nächsten überstimmt. Nun seien sie ein wenig in Panik, alles termingerecht hinzukriegen. Auch das gehört zum Hospiz-Alltag.


25. Juli 2008


"Jeder Kranke denkt mehr als ein Denker. Krankheit ist Absonderung, also Reflexion." (E. M. Cioran)


Als ich dem Nachhilfelehrer mit dem langen Kinnbart die Jause bringe, ist eben die Krankenschwester bei ihm. Er freut sich immer immens, wenn ich zu ihm komme und verwickelt mich in ein langes Gespräch. Ich werde ihn Konfuzius nennen, denn er ist sehr belesen und hat auch alle sonst dazu passenden Attribute. Er zählt mir die Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie auf, meint, ich sähe ein wenig “osteuropäisch” aus, bedauert, dass er nie auf Reisen gegangen sei, nur seine Frau sei mit ihrer Schwester nach Amerika gefahren, damals hätte er das Haus gehütet.

Dann erzählt er mir eine Episode über seinen Sohn: “Als er eine Anstellung gefunden hatte und sich anschickte aus dem elterlichen Hause fortzugehen, wollte er der Maman zum Muttertag und zum Abschied ein schönes Präsent machen. Er schenkte ihr eine Perlenkette, was mich sehr erstaunt hatte. Nachher erfuhr ich, wie er zu ihr gekommen war. Er hatte sie nur angezahlt und dem Händler gesagt, den Rest zahle dann der Papa, d.h. ich!! Hab’ ich natürlich auch gemacht, die Mutter glaubt bis heute noch, dass der Perlenhalsschmuck vom Sohn hart erworben worden sei!”

Er fragt nach meinen familiären Verhältnissen, sagt ich müsse unbedingt meine Frau auf die Spitze des Rokkô-Berges mitnehmen, um die nächtliche Aussicht auf Kôbe zu goutieren, sie sei unübertrefflich, Hakodate sei berühmt, aber Kôbe sei schöner, betont Konfuzius mit Nachdruck. Er stammt aus Kôbe, wie ich von ihm erfahre. Im Rokkô-Massiv zu wandern, sei eine Leidenschaft von ihm gewesen, ich erwähne, dass ich diese mit ihm teile, was ihn sehr freut. Dann wechselt er das Thema zu Sumô, lobt den bulgarischen Sumô-Ringer Kotoôshû und plaudert weiter über Sport. Die Krankenpflegerin hilft stets ein wenig mit per Schreibtafel, Konfuzius sieht mir immer tief und direkt in die Augen, eher ungewöhnlich, da japanische Kummunikationsetikette allzu langes In-die-Augen-Sehen lieber scheut und kurze, wiederholte Augenkontakte präferiert. Ich habe eine gute “Chemie” mit ihm, die sich ganz von selbst ergeben hatte. Konfuzius sagt, er würde mein Gesicht nicht vergessen, fragt mich, wann ich wieder komme, ich erwidere, dass ich nun einen Monat nach Österreich fahre, da reicht er mir die Hand, die ich gerne entgegennehme und leicht drücke, ich sage Lebewohl und: “Wir sehen uns wieder im September!” Er wünscht mir gute Reise und dass ich wohlbehalten zurückkommen möge, ja, die gute Reise möchte ich ihm auch aus vollem Herzen wünschen, die seinige ist einmalig und unvergleichlich länger.


5. September 2008


Die Zeit hat nur für die Unheilbaren eine absolute Bedeutung.” (E.M. Cioran)


Einen Monat war ich außer Landes. Nur vier Patienten haben den August “überlebt” und sind mir noch von vor der Abreise her bekannt. 16 Zimmer sind belegt. Auch eine Ausländerin ist auf Station: eine 57-jährige Brasilianerin, deren Ehemann Japaner ist: er ist mit seiner Schwägerin und dem Sohn, einem großen dunkelhäutigen Mann, gerade zu Besuch, als ich den Tee bringe. Sie freuen sich über eine englische Ansprache, ich fühle mich sofort wohl und bin ungezwungen in ihrer Gesellschaft. Die Patientin hingegen sitzt auf einem Sessel, ein Bein angezogen, hinter dem sie ihr Gesicht verbirgt. Sie hat Eierstockkrebs und sei in einem schlechten Zustand, so die Oberschwester per Band mit der Tageslosung.

Konfuzius ist noch im Haus, wie ich mit Freude höre, allerdings habe er nur noch wenig Appetit und einen schlimmen Dekubitus, der ihn arg plage. Ich bitte darum, dass ich den Inhalt seiner Thermosflaschen erneuern darf, ich möchte ihm noch einmal “Hallo” sagen. Ich gehe in sein Zimmer, er liegt mit Blick zur Decke gewandt und offenem Mund auf seinem Lager, ich berühre leicht seine Hand und rufe ihn mit Namen, ich weiß, dass er schwerhörig ist und zur Kommunikation eine Schreibtafel als Behelf zu verwenden beliebt. Sein Gesicht ist stark eingefallen, er dreht den Kopf zu mir und sieht mich aus schon mit mattem Perlmuttglanz verschleierten Augen an, dann drückt er meine Hand und lächelt, er hat mich erkannt und ist sichtlich bewegt. Wir haben unser Versprechen gehalten! Ich sehe ihm lange in die Augen und spreche einfach drauflos: “Ich bin wieder da und zurück! Es freut mich so, dass ich Sie wiedersehe. Ich wechsle Ihnen jetzt wieder freitags die Getränke aus! Wie gut, Sie wieder treffen zu dürfen!” Als ich ihm die Thermoskannen bringe, faltet er die Hände zu einem wortlosen Dank, ich ziehe mich rückwärts gehend und ihn anblickend zurück. Auch ich mache gasshô, den buddhistischen Gruß durch Zusammenlegung der gestreckten Handflächen, ich grüße seine Buddhanatur.


12. September 2008


Die Brasilianerin ist gestorben. In ihrem Zimmer ist jetzt eine Patientin mit Lungenkrebs, 38 Jahre jung und in Begleitung ihrer Katze. Sie hat ihre Zimmertüre gerne offen und ihr Haustier geht aus und ein, streunt zuweilen am Gang und ist somit Tier des ganzen Hauses.

Die Bandaufnahme der Oberschwester ist heute ungewöhnlich detailliert, was die Symptomkontrolle bei den einzelnen Patienten betrifft: und es ist fast wie eine Liste der im Endstadium häufig nötigen Maßnahmen: Antibiotika, Analgetika wegen aktutem Schmerz bei der Ausscheidung; Diuretika für die Kranke mit Gebärmutterkrebs, da ihre Füße mächtig geschwollen sind und denen Wasser entzogen werden soll; einem Patienten mit Nierenproblemen wurden Schläuche gesetzt, um den Harn abzuführen, weshalb in seinem Zimmer ein strenger Uringeruch herrsche; mehrere Leidende haben Schläuche in den Nasen, einige erhalten fiebersenkende Mittel; andere solche gegen Übelkeit, Massagen, insbesondere der Beine, verschaffen vielen eine willkommene Erleichterung. Eine Patientin neigt dazu, die Einnahme ihrer Medikamente zu vergessen oder die Dosis durcheinanderzubringen, sie darauf aufmerksam zu machen, sei eine delikate Sache und mit Raffinesse zu bewerkstelligen, da sie sehr sensibel sei und sofort vermute, man könne ihr Amnesie oder Alzheimer unterstellen. Von Konfuzius weiß die Oberschwester zu berichten, dass er zusehends an Kraft verliere und selbst Briefe, die ihm in großer Schrift auf die Schreibtafel übertragen werden, kaum noch zu lesen imstande sei.

Ja, Konfuzius macht mir Sorgen. Wie ich komme, um seine Getränke frisch aufzufüllen, ist er von drei (!) Krankenpflegerinnen umringt, eine flößt ihm Tee ein, als sie absetzt, erblickt er mich kurz, ich habe den Eindruck, dass flugs ein Lächeln über sein Gesicht huscht – oder habe ich mir das nur gewünscht, vielleicht hat er mich gar nicht erkannt? Seine Wangen sind schlimm implodiert, ich habe den Eindruck, als ob er sich bald in die Unsichtbarkeit verziehen wolle und wünsche ihm innerlich das Beste für seinen ihm bevorstehenden Weg.


19. September 2008


Konfuzius ist vor drei Tagen von uns gegangen. Merkwürdig, als ich auf die Station kam, hatte ich das irgendwie gefühlt. Sein Zimmer war direkt neben dem der Ehrenamtlichen – und auf eine seltsame und doch deutliche Weise war die Atmosphäre eine andere, eine veränderte.

In seinem Bett liegt nun ein 46-jähriger Mann mit Kehlkopfkrebs, der schon überall hin metastasiert hat. Er ist zwei Jahre jünger als ich und hat drei Kinder, die Tochter im Teenager-Alter und der volksschulpflichtige Sohn sind auf Besuch, sie sehen mich treuherzig und ein wenig verunsichert an, die Tocher hat ein liebenswürdiges, aus tiefster Seele kommendes Lächeln, es hat was Anrührendes und Trauriges (Trauerndes?) an sich, sie weiß mehr um den Ernst der Lage als ihr Bruder, der in der Lobby mit einem tragbaren Gerät Computergames spielt.

Die Katze strolcht zu meinem Bedauern nicht mehr fürwitzig durch die Gänge. Ihre Besitzerin hat, edel gesagt, das Zeitliche gesegnet: sie war nur auf Kurzbesuch auf “unserer” Station – aber sind wir das nicht alle auf “unserem” Planeten?

Heute braust ein Taifun-Ausläufer um das Haus und bringt die Zweige der Bäume ins Schwanken, alle Weile fegt eine Bö ins Geäst und entblößt das dann blitzende und blinkende Blätterunterkleid. Die Sicht ist klar, alles wie durch eine Lupe schärfer zu sehen als sonst und bizarre Wolkenfetzen werden über den Himmel gejagt. Unsere Seelsorgerin ist im Haus, auch ein Wirbelwind in Person, in deren Sog stets etwas sehr Reines zurückbleibt, sie bemerkt, dass etliche Kranke den Orkan genießen, er ist ein Naturschauspiel, spannender als Fernsehen und außerdem fühlt man sich im Zimmer sicher und heimelig, ein Tag, an dem man draußen nichts versäumt, weil nichts zu suchen hat.

Als ich das Geschirr in den Schrank im Gesellschaftsraum einräume, sitzt Frau Yamada mit einer Patientin auf dem Sofa und plaudert angeregt mit ihr. Sie kann gut mit den “Insassen”, denke ich mir. Später frage ich sie, wie das Gespräch war und sie erklärt mir, dass die Frau morgen von ihrem Enkel Besuch erhalte. Sie sei ganz aufgeregt. Der Enkel sei ungefähr im Alter von unserer Rund-um-die-Uhr-Ehrenamtlichen und sie habe sich danach erkundigt, was die jungen Leute von heute so alles bewege und interessiere. Sie wolle ihren Enkel, der extra aus Tokyo anreise, ja nicht langweilen! Wie rührend: es sind nicht nur die auf Besuch Kommenden, die sich in ungewohnter Umgebung ein wenig mulmig, manchmal wohl auch gepeinlicht fühlen, auch die Besuchten haben ihre Unsicherheiten und genieren sich gar ein wenig für ihren Zustand und die Umstände.


3. Oktober


Media vita in morte sumus” (“Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen”; Gregorianischer Choral, Anonymus 10. Jh.n.Chr.)


Über die Art des Zuhörens bei Sterbenden zitierte Cicely Saunders gern ein chassidisches Frage-Antwort-Spiel: "Warum, sagst du, mußt du jemandem zuhören, als ob du ins Wasser blicktest und nicht in einen Spiegel? Weil du sehr, sehr still bleiben mußt, wenn du ins Wasser blickst, damit es sich nicht bewegt."


Heute sind es die Geräusche, die mir ins Ohr und Bewusstsein fallen. Nach dem Blumen-Herrichten ist eine meiner Tätigkeiten, Flecken von den Wänden zu putzen, Getränkespritzer und dergleichen. Die finden sich oft in Türgriffnähe, in die ich mich daher begebe, manchmal in die Hocke, in der ich dann mit einem Putzlappen die Tapete schrubbe. Die Türen zu den Patientenräumen sind rädchenbewehrte Schiebetüren, die entsprechend leise geöffnet und geschlossen werden können. Manche stehen untertags überhaupt offen, bei vielen ist als Stoßdämpfer auf der Schwelle ein kleines Pölsterchen ausgelegt, das den Zuschiebeschwung absorbiert und die Türe einen kleinen Spalt offen hält. Bei meinem Fleckentfernerrundgang bin ich also in intimer Hörweite zum Geschehen in den Zimmern und alle möglichen Laute dringen unweigerlich an meine Lauscher: hie ein quälender Hustenanfall, da ein schauderhafter Röchelatem, das Halskratzgeräusch beim vergeblichen Hochräuspern von Schleim, Stöhnen, Stille; aber auch vergnügter Plauderton und Lachen, Musik und Fernsehprogramme, heute auch Babygeschrei von zwei Kleinkindern, die von ihrer Mutter in den Besuchschlepptau genommen worden waren. Nirgendwo sind Schmerz und Freude so dicht beieinander, so verdichtet, so endgültig wie vor den Pforten des Todes.

Vor den Krankenschwestern habe ich gigantischen und immer wieder staunenden, wenn nicht ehrfürchtigen Respekt. Ja, manche verehre ich insgeheim, ich habe da meine stillen Lieblinge: die kleine Breitschultrige mit den rotgefärbten Haaren, sie erinnert mich an eines dieser zähen, unermüdlich galoppierenden mongolischen Steppenpferdchen und sie ist ebenso unerschöpflich an ihrem Werke, zupackfreudig, keine Umstände, kein Aufmucken, sie hat alles in festem Griff, vielleicht ist sie die geheime Jeanne d’Arc der Station, ihr Anblick gibt mir immer Kraft und Lebensvertrauen, die Kleine ginge auch schnurstracks in die tiefste Hölle, um dort Darbenden und Schmachtenden zu helfen, denke ich mir, ein Engel mit der Konstitution einer Reckturnerin. Mein roter Engel.

Dann ist da die mit dem runden Antlitz, auf dem immer ein Lächeln wohnt und deren Augen von wunderschönen, ihr Lippenspiel unterstreichenden Krähenfüßchen umtanzt werden, ich huldige ihr als der Kannon in Menschengestalt, in ihrem Gesichtsausdruck glänzt und schimmert immer etwas von dieser Bodhisattwa-Gestalt durch, dieser Erlöserin von allem Leid, die in Ostasien in weiblicher Manifestation verehrt wird und von den Jesuiten nicht ganz unzutreffend die “Göttin der Barmherzigkeit” genannt wurde, als sie ihr zum ersten Mal im 16. Jh. n. Chr. in China begegnet sind. Meine Kannon ist mein Licht im Dunkel, wenn sie flink die Gänge hinuntergleitet, dann zieht sie eine Leuchtspur hinter sich her und wenn sie dir ins Angesicht strahlt, dann geht die Sonne noch einmal auf, meine Sonnenscheinkannon, sie hat so viel Rettendes und Mütterliches und Herzerwärmendes, ich liebe sie.

Mein dritter Schutzengel auf der Station ist die introviertierte Schönheit mit dem langen Scheitel, der immer eine Hälfte ihres Gesichtes verschleiert und hinter dem sie sich ein wenig in sich selbst verkriecht und verbirgt, sie ist eine wirkliche Schönheit, sie hat Klasse, erlauben Sie, ich bin Connaisseur. Dabei hat sie etwas sehr Entschiedenes, ja Resolutes, an sich, eine enorme innere Stärke glaube ich aus der Ruhe und Eleganz mit der sie durchs Hospiz schreitet, herauszuspüren, sie ist zweifelsfrei von noblem Geblüt und hoher Gesinnung, aber sie hegt auch ein Geheimnis in ihrer Brust, ich möchte es ihr entlocken, seit ich sie sehe, macht sie mich neugierig, was treibt diese Wohlgestalt hier um, die ebensogut auf einem Laufsteg stolzieren dürfte, aber hier die Moribunden tröstet, ihr Anblick ein Augentrost, ein Geschenk. Beim Getränkewechseln komme ich eben auf ihre Höhe am Gang, geselle mich an ihre Seite und spreche sie an: “Sie sind aber noch jung für diese sicher schwere Tätigkeit!” Sie lächelt, zauberhaft, ja, sie verzaubert mich, blickt mich aus dem unverschleierten Auge direkt an, winkt ab, nein, nein, sie sei nicht mehr so jung und ich nehme wahr, dass dem tatsächlich so sein möge, sie hat beim Lächeln zarte Furchen in der Wange und betörende Fältchen um die Augen, die ihre Schönheit mit Reife veredeln, “aber Sie sind eine wunderhübsche Erscheinung”, entfährt es mir und läßt sie auf das Zarteste und Lieblichste erröten und mir zuwinken und das Weite suchen.

Was ich von “meinen” Krankenpflegerinnen lerne ist Liebe, nicht die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern liebevolle Zuwendung und Zuneigung, die nach keinerlei Gegenleistung fragt, keine Bedingungen stellt und deshalb auch keine Grenzen kennt. Herzenswärme für Menschen, für die sie in aller Regel ein paar Tage, zuweilen ein paar Wochen da sind und die sie pflegen und umhegen wie ihr eigenes Kind, spazieren führen und zuhören, waschen, baden, massieren, alle erdenklichen Körperöffnungen abputzen, füttern, mit Medikamenten versorgen und Infusionen und Katheter setzen, zum Schlafen betten und legen und was nicht alles mehr. Freilich gibt es “schwierige” Patienten, grantige und fordernde und die Pflegerinnen tuscheln es sich zu und tauschen sich aus über die Schrullen und Launen der ihnen Anvertrauten, gewiss mag es ihnen beim einen oder bei der anderen schwerer fallen, ihren Dienst zu tun, aber dienen, das tun sie - Liebesdienst für die, für die nichts mehr zählt als Liebe. Auch wenn in ihnen manchmal ein neckisches Teufelchen stecken mag, kann ich sie mir alle von einem hauchfeinen Heiligenschein umflort vorstellen.

Als ich beim Blumen-Arrangieren bin, kommt eine Frau in mittlerem Alter in die Küche, um ein paar Essensreste zu entsorgen. Sie spricht mich unverzüglich an, lobt meine Blumenpflege, fragt nach meinem Heimatland, erzählt, sie sei viel in Europa gereist und habe ein Jahr lang in Brighton gelebt. Ebendort habe ich als Jugendlicher viele Sommer verbracht, in Hove genau genommen, was ich ihr mitteile. Wir haben einen guten Rapport, sie wirkt burschikos und ich kann es nur schlecht sagen, aber es ging etwas sehr Helles von ihr aus, Helligkeit, damit würde ich ihr Wesen mit einem Wort charakterisieren. Vorerst dachte ich, sie wird wohl die Tocher eines unserer Patienten sein.

Heute kommen zwei junge Friseurinnen auf die Abteilung und einem unserer Klienten wird bei offener Tür im Zimmer das Haar geschnitten und gewaschen. Er wurde in einen Rollstuhl gehievt, die Coiffeusen hatten alle nötigen Utensilien in großen Umhängetaschen mitgebracht und machten sich zwitschernd an ihr Werk. Im Zimmer geht auch die Frau von der Küche aus und ein, ich weiß also, zu wem sie auf Besuch ist oder “gehört”. Als ich frischen Tee bringe, plaudert sie wieder munter los, ihr Mann – ich bin ein wenig verblüfft – sei vier Jahre lang in Milano stationiert gewesen, da seien sie oft in die Alpen gefahren zum Schilaufen. Eine schöne Zeit hätten sie damals miteinander verbracht, aber nun ginge das alles nicht mehr. “Ja, so ist das, nicht wahr …?”, sage ich und bleibe schweigend eine Weile bei ihnen stehen. Es hat keinen Sinn, falsche Ermutigungen auszusprechen wie: “Es wird schon wieder werden!” Die grausame Faktizität des bevorstehenden Endes gemeinsam auszuhalten und mitzufühlen – nur dies bleibt, Hineinspüren in diesen Verlust, Verlust der Gesundheit und Bewegungsfreiheit – und den endgültigen Verlust von Beziehungen und Welt. Es lastet schwer im Raum, wird aber fast greifbar leichter durch das gemeinsame, ehrliche, Seelenruhe bewahrende und geteilte, somit anteilnehmende, einen kleinen Teil mittragende Dem-Unvermeidlichen-ins-Auge-Sehen. Und es ist die Frau in ihrer Gefasstheit, die mir den Mut gibt, einfach mit ihr da zu sein - keine Geste, kein Wort zuviel.

Beim Tee-Servieren komme ich ins Zimmer eines Mannes, ein Endvierziger wohl, groß, attraktiv, in einen dunklen Seiden-Pyjama ist er gekleidet, den Oberkörper erhöht, ruht er mit einem angewinkelten Bein auf dem Bett. Aber sein Gesicht ist aschfahl, blankes Entsetzen und Angst, bodenlose Angst sprechen aus Miene und Augen. Ich bin erschrocken, habe diese bloßgelegte, bare Todesangst noch nicht gesehen, es muss ihm eben Erschreckendes durch den Sinn geschlichen sein, vielleicht hat er just gespürt, wie ihm die Lebensenergie aus den Gliedern entfleucht und Kälte hochkriecht und dieses Dunkel des Nichtwissens und dieser alles aufsaugende Schlund sich auftun, die Ablösung von allem, das letzte Nachtwerden und Ausknipsen der Sinne und die Auslöschung der Welt, der Sprung von der Klippe, Linsenklappe zu, Düsternis, ich weiß es nicht, aber der Schatten des Todes war da, ein kühler Hauch mitten am Tag wie bei einer Sonnenfinsternis.


10. Oktober 2008


Warten auf den Tod und darum in der Zeit sein – damit will es sich nicht ausgehen. Denn wenn ich warte, dann ist es immer ein Etwas, dessen Heraufkunft und Zukunft meine Wartezeit erfüllt. So wartet der junge Mensch: auf die Frau, die er liebt, auf die Landschaft, die er sehen möchte, auf das Werk, das er sich als das seine vornimmt. Wo aber der Tod ins Spiel tritt als Zielpunkt des Erwartens, wo, für den Alternden, dieser Tod als das zu Erwartende täglich mehr Wirklichkeitsgehalt bekommt und anderer Wartenslohn daneben nichtig wird, dort sollte von Zeit-in-die-Zukunft nicht mehr gesprochen werden. Denn der Tod, den wir erwarten, ist kein Etwas. Er ist die Verneinung jeglicher Etwaigkeit. Auf ihn warten ist kein zu-ihm-Sein, denn er ist nichts.” (Jean Améry)


Viele Abgänge gab es letzte Woche, innert der letzten 24 Stunden sind gar drei PatientInnen verschieden, darunter auch der gut aussehende Mann, den der Schatten der Schwingen des Todesengels gestreift hatte, letzte Woche, als ich in sein Zimmer trat. Frau Inai ist auch gestorben, sie war im Haus, seit ich meinen ersten Dienst versah, ihr Name war jede Woche auf meinem Patientenzettel, eine Konstante, eine Vertraute und ihr Zustand wurde oft als “stabil” beschrieben, nun steht sie auf einem Partezettel – das geht nahe.

Die burschikose Frau, die ein Jahr lang in Brighton gelebt hatte, erkundigt sich nach meinem Namen. Ich gebe ihr die deutsche und englische Version, fortan sagt sie zu mir: “Vielen Dank, Herr Herbert!” Sie spricht meinen – ursprünglich ja anglo-normannischen - Familiennamen schön britisch aus. Danke, Frau Mikuni!

Die Visibilität des Verfalls wird mir heute fast schockartig bewusst. Vielleicht sehe ich den körperlichen Niedergang deshalb so deutlich, da ich die Krebskranken in Wochenabstand sehe und das Graduelle aus dem Bild herausgeschnitten ist. Da ist der Mann, der sichtlich kleiner und eingekrümmter mit Gehhilfe den Gang hinunterzuckelt, er wirkt auf mich, als sei er auf die Hälfte seiner vorherigen Gestalt geschrumpft. Andere werden von ungebetenem Wachstum geplagt: eine wiewohl dürr gewordene, mir gegenüber immer gut gelaunte Frau, der ich den Tee bringe, hat – für mich - plötzlich einen großen Auswuchs, eine Geschwulst in ihrem Unterleib, als wäre sie schwanger – welch grotesker Gedanke, aber sie sitzt auf dem Sessel neben ihrem Bett mit leicht gespreizten Beinen in einem dünnen hochgezogenen Pyjama, durch den sich ihre Vulva abzeichnet. Ich muss an eines dieser mittelalterlichen, makabren Memento-mori-Tableaus denken, auf denen das nackte Dem-Tode-Geweihtsein ungeschminkt dargestellt wird und wo die Lebenszeit von Geburt bis Verwesung in einen Augenblick implodiert.

Eine Vokabel, die ich auf der Station oft höre, fällt mir heute besonders häufig ins Ohr, will mir scheinen. “Harnlassen”. In den Gesprächen der Krankenpflegerinnen fällt dieses Wort heute ständig, jene habe glücklich Harn gelassen, dort sei das Urin-Abzapfen gut gelungen, bei einem weiteren Klienten sei die Ausscheidungsgeschichte schon erledigt, ja, Körperpflege im weitesten Sinne gehört zu ihrem Tagesgeschäft. Und sie erledigen es bei anderen als das, was es ist: das Selbstverständlichste der Welt. Für die Patienten ist die Einbuße an Autonomie in Körperdingen schmerzlich und wird als Verlust von Würde erlebt, nach und nach muss man immer mehr abgeben, loslassen.

Meine Krankenschwestern: mich beeindruckt, wie mir heute ins Auge sticht, die Art, wie sie dastehen: allesamt wie Bäuerinnen auf ihrer Scholle, beide Beine fest auf dieser Erde und im Leben, breitbeinig und beherzt, unerschrocken stehen sie da – auch die Schönheitskönigin, die, wie ich heute ebenfalls zu bemerken beliebe, kräftige, keulenförmig schön geschwungene Waden hat. Wo nehmen sie nur ihre Kraft her, an welchen Schultern weinen sie sich aus, wohin stecken sie ihren Schmerz?

Der rote Engel trippelt wie immer emsig zwischen den Zimmern umher, um die anfallenden Handgriffe und Tätigkeiten zu erledigen, ich treffe sie am Gang, mit ihr kann ich seit je Schmäh führen, sie lobt gar meine rote Hose, die sei megaschick, danke, roter Engel, Rot magst du ja offensichtlich, ich preise ihre zupackende Art und frage, wie die Lage heute sei, da sagt sie glatt zu mir: “Ich arbeite wie eine Stute, wie ein Kutschenpferd, ich bin ja noch eine der Jüngsten hier…” Ich bin baff und schmähstad. Habe ich sie nicht eben letzte Woche mit einem Steppenpferdchen verglichen, sie, die auch wirklich eine wenig wild und ungezähmt wirkt, hat sie meine geballte Gedankenladung beim Schreiben empfangen – langsam wird mir das Hospiz unheimlich!

Wenn ich Fragen zu Klienten habe, ob ich in ihr Zimmer gehen könne oder mit der Jause ein wenig warten möge oder ähnliches, sehe ich dazu, dass ich die Schönheitskönigin erwische, um sie zu konsultieren. Anfangs ist sie noch ein wenig verlegen, errötet zartrosa, aber sie antwortet professionell und präzise auf ihre leicht verschämt-charmante Art durch ihre Haargardine, bestrickend. Und auch mit ihr führe ich meinen Schmäh. Spätnachmittags begleitet sie eine Patientin im Rollstuhl per Lift in das Parterre und dann vor das Gebäude, damit sie dort eine rauchen kann. Klar, dass die Moribunde das Einverständnis des medizinischen Personals hat: eine Zigarette paffen gehört zu ihrer “Lebensqualität”, ist Ausdruck von Lebensfreude: und sie lebt bis zum letzten Zug, Atemzug. Ihr diese Freude nicht mehr zu gönnen, wäre in Anbetracht ihres Zustandes ja auch absurd. Nach Rückkunft fange ich mir die Schönheit wieder am Gang ab und sage: “Tse, tse, waren Sie eine schmauchen? Schlimmes Mädchen!” Sie schmunzelt, ja, sie lacht: “Nein. Nein, nicht ich, Frau Yamashiro!” Das ist die Patientin mit dem mir neuen Geschwulst im Unterleib. Wie die Schönheitskönigin heißt, die mir gleich wieder verduftet ist, weiß ich mittlerweilen auch.


24. Oktober 2008


Die Oberschwester steht in der Lobby am Fenster und sieht auf die Ferne des Meeres hinaus, als ich vorbeigehe, seufzt sie und sagt unvermittelt: “Gesund sein und sich ob dessen des Lebens freuen können, das ist das höchste Gut! Jeder Augenblick so kostbar!” Ich kann nur zustimmend nicken. Wie altbacken platt und abgedroschen hätte dies wo- oder wannanders klingen können, hier in dieser Grenzstation, dieser Schwellenzone, in der die Membran, die Leben von Tod trennt, durchscheinend wird, da ist jedes Stäubchen Banalität von diesen Worten weggewischt, sie sinken in ihrer vollen Wahrheit tief ins Innere ein.

Ich vermisse heute mein Feuermähnenpferdchen, sie hat wohl eine andere Schicht; aber die Schönheitskönigin gleitet in ihrem gemessenen Gang durch’s Haus, wie immer mit der Grazie einer ausgeschlafenen Raubkatze, aufreizend, sie lächelt mich reserviert, aber in der Kenntnis, dass ich ihr Verehrer bin, an. Die Kannon trägt ihr Licht durch die Korridore. Ich bin gerne hier.


31. Oktober – Musikcafé


Heute ist wieder eine Sonderveranstaltung am Programm: vier Mal per annum, ein Mal pro Jahreszeit wird ein “Musikcafé” organisiert. Die ehrenamtlichen Hausfrauen backen vielerlei Kuchen, als Getränke werden Kaffee, Schwarztee und grüner Tee zur Auswahl aufgebrüht, im Aufenthaltsraum werden Tische arrangiert, Servietten ausgelegt und Blumen aufgestellt. Eine Anrichte wird installiert, auf der die Getränke warmgestellt und die Süßigkeiten auf großen Tabletts ausgelegt werden. Nach und nach treffen die “Gäste” ein, die meisten per Rollstuhl, manche in Begleitung ihrer Angehörigen. Ich habe zur Feier des Anlasses eine Fliege umgebunden und mime den Kellner, indem ich Bestellungen aufnehme und dann das Gewünschte serviere. Die freiwilligen Kolleginnen hatten vorsorglich eine Speisekarte und ein Musikprogramm gedruckt und vervielfältigt, die nun zur Einsicht auf den Tischen lagen. Zwei ältere Damen aus dem Ehrenamtlichenteam spielen dann – gar nicht schlecht – vierhändig Klavierstücke, Boccherini und Mozart, aber auch Jazz-Standards wie “Les feuilles mortes” und “Summertime”, am Schluß den uralten japanischen Gassenhauer “Aoi sanmyaku” (“Blaue Bergkette”), zu dem die Kranken lächeln, wippen, Takt trommeln und klatschen.

Die Musik lockt auch die Krankenpflegerinnen an, selbst Dr. Andô gesellt sich zur Runde, fast das ganze Hospiz ist nun versammelt, es herrscht eine aufgeräumte Stimmung, ja es gibt tatsächlich eine familiäre Note in der Atmosphäre. Für eine Stunde sind alle Unterschiede aufgehoben, plötzlich sind alle Kaffeehausgäste, die Krankenpflegerinnen schwätzen und scherzen ausgelassen, Dr. Andô goutiert Käsekuchen und Kaffee, die Ehrenamtlichen plaudern mit den Kranken und deren Verwandten, die Alltagsrollen spielen keine Rolle mehr.

Frau Yamashiro sitzt vergnügt und mit ihrer verschmitzten Miene in ihrem Rollstuhl, sie greift herzhaft zu, isst einen Kuchen nach dem anderen und scheint sich bestens zu unterhalten. Sie trägt eine Strickjacke und hat eine Decke über ihren Bauch gebreitet, sie sieht den Umständen entsprechend gut aus, ihr Unterleibgeschwulst scheint zurückgegangen zu sein. Gesellschaft liebe sie, hieß es schon in der Vorbesprechung und mir fiel ein, dass sie gerne die Türe ihres Zimmers offenließ, auf einem Sessel saß und las, mit Blick auf den Gang, als wolle sie teilnehmen am Geschehen draußen vor der Tür und sie ließ sich ja auch täglich mehrmals vor’s Gebäude bringen, um eine zu rauchen und um der Enge und dem Interniertsein zu entkommen.

Es herrscht ein munteres Aus und Ein, bis gegen vier Uhr nur noch eine Runde Angehöriger zurückbleibt und den letzten Kaffee schlürft und zwei Krankenpflegerinnen aus dienstlichen Gründen nachzüglerisch eintreffen und mit Kuchen verwöhnt werden. Ich habe meinen Kellner-Schmäh abgezogen, sie mögen sich heute doch von mir von oben bis unten bedienen lassen und sich entspannen und erholen, sie hätten es verdient, da schwebt meine Schönheitskönigin in den Raum in Begleitung zweier junger Frauen, deren Mutter eben heute eingeliefert worden war. Ihnen wurde von Frau Toragoe, so hieß meine Verehrte, die Station gezeigt und erklärt. “Frau Toragoe, wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?”, frage ich. Sie schüttelt sachte den Kopf und verweist mit einem wirklich bedauernden Blick auf ihre Begleiterinnen, sie könne jetzt leider nicht.

Später treffe ich sie am Gang, sie spricht mich an, sie sei erstaunt und erfreut, dass ich mir ihren Namen gemerkt habe, ja, der sei ein wenig ungewöhnlich, entgegne ich, ich hätte mich nach der korrekten Lesung erkundigt, sie wisse ja, in unserem Zimmer gab es da diese Fototafel mit dem gesamten Personal und übrigens, albere ich, hätte ich ihr so gerne Kaffee serviert, ich hätte extra für sie meine Fliege umgebunden und da habe sie mich abblitzen lassen! Sie lacht, vielmehr gluckst, kurz auf und streicht sich ihre Haare aus dem Gesicht und nun sieht mich die Sphinx aus zwei onyxschwarzen, brunnentiefen Augen an und erklärt, sie sei gerade so beschäftigt gewesen, es tue ihr leid. Wieder spielen glassprungfeine Fältchen auf ihren Wangen, ihr Blick ist warm, aber da ist ein Schatten über ihr, als hätte sie zuviel vom Leben und Sterben gesehen – nicht im Hospiz – sondern draußen, als wäre sie durch eine Katastrophe gegangen oder eine Legion zerbrochener Liebschaften, ich weiß es nicht, da ist Weisheit und Schmerz, ein Mysterium, vielleicht werde ich sie fortan meine Sphinx nennen. Sie läßt mir keine Ruhe. Irgendwann werde ich wohl einen Kaffee mit ihr trinken gehen und mir ihre Geschichte erzählen lassen.


7. November


Wie ich aus dem Lift steige und mich anschicke ins Zimmer der Ehrenamtlichen zu gehen, sehe ich die Schönheitskönigin gerade eine Patientenzimmertür aufschieben, sie schenkt mir ein edles, mir sehr geneigtes, wie ich wähnen darf, gemaches Kopfnicken zur Begrüßung, dann ist sie verschwunden. Das feurige Steppenpferdchen ist wieder auf Station, es ruft mir über eine halbe Ganglänge zu: “Hallo, lange nicht gesehen!” wie einem Kumpel oder Kollegen, sie hat eine entwaffnende Natürlichkeit und diesen sicheren, unbeirrbaren Feldherrenschritt, ich habe sie noch nie – wie gelegentlich manch andere Krankenpflegerin - kopflos herumlaufen sehen. Heute wird die kleine Welt hier zusammengehalten, gibt es Halt.

Diesmal bin ich mit der ganzjährigen Volontärin allein im Dienst, höre mir aufmerksam das Band mit dem Tagesstand der Dinge an, es ist die Stimme der Oberschwester, die sich nie ein Blatt vor den Mund nimmt, alle Symptome und Vorkommnisse bei ihrem brutalen Namen nennt, Kehlkopfkrebs, Mastdarmkrebs, Gehirntumor, Gebärmutterektomie, Metastasen, Blut im Urin, Übelkeitsanfälle, aufgedunsenes Gesicht aufgrund von Infusionen, zunehmende Bewegungsunfähigkeit, nachlassender Appetit und vermehrter Schlummer und Dahindämmern als Boten des nahenden Endes, all dies kommt ihr wie selbstverständlich von den Lippen, aber es ist die hiesige Wirklichkeit, die zu beschönigen niemandem mehr hilft.

Die Patientin, die direkt neben unserem Dienst- und Rückzugszimmer liegt, ist seit ich sie mit Imbiss und Getränken bediene, bettlägerig, sie hat alle Utensilien und Habseligkeiten, die sie über den Tag bringen, auf einer breiten Art Anrichte, die sich über ihrem Bauch befindet, ausgestreut. Brille, Bücher, TV-Fernbedienung, Gebissbehälter, Cremetiegel, Tassen, Tabletten, Thermosflaschen und anderes mehr sind da in ihrem Bauchladen. Die Dame zählt achtzig Lenze und hat lange graue Haare, die sie offen trägt und die luxuriös das Kopfpolster zieren und einen Widerschein von Jugendlichkeit aussenden, aber da ist noch etwas anderes, das diese Impression verstärkt: es ist das Antlitz der Frau, in dem auch nicht die feinste Spur von Bitterkeit liegt, sie strahlt eine heitere Schicksalsergebenheit und Demut aus, sie ist in Schönheit und Versöhntheit gealtert - ein wegweisender Leuchtturm. Wir kennen ja alle auch das Gegenteil - die verbitterten und bitterbösen und finsteren alles zum Teufel wünschenden Visagen von Alten.

Ich bringe ihr eine zweite Tasse hôjicha, einen Tee, der aus gerösteten Blättern aufgebrüht wird und ein rauchig-würziges Aroma hat und den sie liebt, wie sie mir vor ein paar Wochen zugeflüstert hatte. Sie bedankt sich mit einer Herzlichkeit und Wärme, die mich anrührt, ich kann es nicht oft genug erwähnen, ich bin es, der hier beständig beschenkt wird. Und es ist dieses schon transzendente, transluzente Lächeln der Todesnahen, dieser Glanz der Anderwelt, der auf den Gesichtern liegt, es sind diese Momente und Mienen, die ich nie vergessen werde, die entsprechenden Nachbilder sind unauslöschlich in meiner Seele abgelichtet und dort als Schatz verwahrt.

In der Lobby treffe ich die Frau mit Bubikopf, Frau Mikuni, sie spricht gerade mit Dr. Andô und der Oberschwester, im Vorbeigehen bedankt sie sich bei mir, ich weiß vom Tonband her, dass ihr Mann verstorben ist, ich hätte gerne meine Anteilnahme ausgesprochen, aber es ergab sich keine Gelegenheit und ich wollte nicht in die laufende Konversation hineinfallen. Sie hatte ihre Helligkeit nicht verloren, war dankbar, dass ihr Gatte friedlich gehen konnte, wie ich später erfuhr. Sie hatte uns Ehrenamtlichen eine Schachtel Kuchen hinterlassen. Dank sei dem Hospiz und dem Papaver somniferum und seinen Derivaten! Möge doch die ganze Mohnernte in Afghanistan aufgekauft und in Analgetika umgewandelt werden!


14. November


“… es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.” (Thomas Bernhard)


“Die Verlegenheit, die wir beim Anblick eines lächerlichen Menschen empfinden, kommt daher, daß es unmöglich ist, sich ihn auf seinem Totenbett vorzustellen.” Das schreibt der Meistersinger der dunklen Nacht der Seele, E.M. Cioran, aber mir ist kein Mensch mehr lächerlich und ich kann mir jeden auf dem Totenbette vorstellen, mittlerweilen, da ich jede Woche an den Betten Sterbender stehe, manchmal überfällt es mich wie eine makabre Vision, beim Anblick eines unbeschwerten, aufgetakelten, Bewunderung erheischenden Mädchens oder eines Burschen, der mit coolem Blick und lässigem Schritt die Welt wissen läßt, dass sie ihm gehört, dann sehe ich sie blitzschlaglang in all ihrer Fragilität, abgezehrt und ergeben auf ihrem Sterbelager – zurechtgestutzt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner alles Menschenmaßes, die Sterblichkeit, das “Sein zum Tode” (Heidegger).

Die schöne Frau Toragoe hat die Hauptaufsicht über einen neuen Patienten im unserem Zimmer gegenüberliegenden Flügel, aber ich halte vergebens Ausschau nach der Wohlgestalt mit dem ausgeruhten Savannenköniginnenschritt, sie erscheint an keinem Horizont, sie ist heute nicht da, meine schöne Sphinx. Ich bringe dem Kranken Tee und Kuchen, er ist hochgewachsen und schlank, sein rechtes Auge ist feldspatmatt, er hatte es bei einem Unfall als Kind verloren, sein verbliebenes Augenlicht ist schwach, er tappt nach dem Tee, ich muss dazu sehen, dass er ihn nicht verschüttet.

Auf “unserem” Flügel liegt eine junge Frau, fünf Jahre jünger ist sie als ich, sie hat Gebärmutterkrebs, sie kauert gern in Embryohaltung in ihrem Bett und sieht auf ein Foto eines Hundes, eines Schnauzers, so weit ich das sehen kann. “Ein schönes Tier!” sage ich, als ich ihr den Tee serviere, sie sieht mich an und sagt schlicht: “Danke!” Später spreche ich mit der Oberschwester über die Hundepolitik auf unserer Palliativstation und sie erklärt, dass Hundebesuch prinzipiell kein Problem sei, früher seien auch Therapiehunde gekommen, die die Kranken dann streicheln konnten, nur Übernachtungen und ständiges Halten der besten Freunde des Menschen auf den Zimmern, das sei ein wenig heikel, manche Mitpatienten erschrecken, wenn sie herumlaufen, und sie, die Oberschwester sei kein Hundemensch, sie käme mit den Vierbeinern nicht so gut zurecht, da erbot ich mich gleich als Gassiführer und Dompteur, sollte dies vonnöten sein.


21. November


Ganz offensichtlich verdankt sich die Abschaffung der Trauer nicht einer Frivolität der Hinterbliebenen, sondern einem unbarmherzigen Zwang der Gesellschaft. Die weigert sich, an der emotionalen Betroffenheit des Leidtragenden zu partizipieren – womit sie, genau genommen, die Präsenz des Todes negiert, selbst wenn sie seine Realität im Prinzip noch gelten läßt. … Der Tod ist ausgebürgert. … Die Trauer ist eine Krankheit. Wer sie zeigt, legt eine Charakterschwäche an den Tag. … Die Trauerzeit ist nicht mehr die des Schweigens in einer gehetzten und indiskreten Gesellschaft, sondern die des Schweigens der Gesellschaft selbst: das Telephon klingelt nicht mehr, die Leute meiden einen. Der Leidtragende ist in einer Art Quarantäne.” (Philippe Ariès).


Kaum bin ich aus dem Lift, sehe ich die Schönheitskönigin, sie kreuzt meine Strecke und ich sage mit erhobenem Zeigefinger: “Letzten Freitag haben Sie mir geschwänzt!” Ich verwende bewusst den Ausdruck aus dem Studentenjargon, sie lacht und erwidert: “War ja nur ein Tag!” Viele Leute “in Zivil” sind in der Lobby und kommen aus dem Raum neben dem Ehrenamtlichenzimmer, in das ich eben hineingehen will, da sehe ich den Grund des Auflaufs: eine Bahre wird aus dem Nebenzimmer Richtung Aufzug geschoben, die Leiche ist bis über den Kopf eingewickelt in weißes Linnen und wirkt mumienhaft, steif wie eine Statue, wir verbeugen uns zum Abschied, die Verwandten und das Stationspersonal geben ihr letztes Geleit. Für einige Zeit herrscht betretene Stille, ich kannte sie, Frau Yoshimi, sie war über einen Monat hier gewesen und ihre Tochter hatte sich sehr rührig um sie gekümmert, oft für sie gekocht, weshalb ich sie mehrmals in der Küche getroffen hatte, die einsilbige Tochter mit den strähnigen Haaren und dem müden Schlurfschritt, die stets ein wenig niedergeschlagen aussah und die ich beim Musikcafé zu einem entzückenden Lächeln bewegen hatte können, als ich ihr eine zweite Tassse Kaffee angeboten hatte. Auch sie werde ich wohl nicht mehr wiedersehen. Leben Sie wohl!

Heute ist viel los: zwei Sterbefälle, drei Kranke, die ins Bad gebracht werden, ein Dutzend Besucher beim Frau Toragoe anvertrauten einäugigen Patienten, seine Freunde und Bekannten, alle gleichfalls an den Augen verschiedengradig versehrt und sich gegenseitig stützend und führend, Blindenschulkameraden vielleicht.

Mit Frau Soda, der Kranken mit dem Hundefoto an ihrer Zimmerwand, wechsle ich ein paar Worte, wo sich der fesche Kerl jetzt aufhalte, erkundige ich mich, zuhause, eine Freundin kümmere sich um ihn, gibt sie preis, “Sie vermissen ihn sicher”, “Ja sehr, wenigstens das Bild hier habe ich …!” Ich erwähne, dass ich auch einen Hund habe, da wendet sie ihren Kopf und sieht mich an und wispert: “Hunde sind so süß, so lieb, nicht wahr!” Ich nicke mehrfach bestätigend, wir sehen uns eine Weile an, mehr ist nicht zu sagen, ein Band ist geknüpft.


25. November


Am Abend habe ich eine Depesche in meinem Mobiltelefon. Von Frau Toragoe, der ich meine Visitenkarte gegeben hatte. Sie wolle sich nur kurz melden, sie sei heute seelisch erschöpft. Sie dankt mir für die Freiwilligentätigkeit und wünscht mir ein schönes Wochende. Ich schreibe unverzüglich eine Antwort. Ich ersuche sie, sich Zeit für einen gemeinsamen Kaffee zu nehmen und ich füge hinzu, welchen Respekt ich für Ihre Arbeit hege. Wenig später kommt ihre Replik. Ich bin nun mit ihr elektronisch verbunden und im Zwiegespräch. Sie schreibt mir, dass sie zwar über zehn Jahre klinische Erfahrung habe, aber im Bereich Palliativmedizin ein Neuling und deshalb als Gesprächspartnerin nicht so aufregend sei. Ich schreibe ihr zurück, dass ich an ihr und an ihrer Geschichte interessiert sei und darauf bestehe, mit ihr einen Kaffee trinken gehen zu wollen.

Am nächsten Tag gehe ich in der Mittagspause in einen Zen-Tempel am anderen Ende der Stadt. Er hat einen prächtigen Garten, der vor etwa vierhundert Jahren angelegt worden ist und in dem Dutzende Zwergahornbäume stehen, die jetzt eine berauschende Farbpalette von Gold über Orange bis Purpur, ja einem dunklen Bordeauxrot, einer Couleur wie von gestocktem Blut reicht. Wenn die Sonne in das Laub fährt, glost und glüht und brennt es im Licht und wirft einen rotgüldenen Schatten auf den Karpfenteich und die Steinbrücken, die mit unzähligen abgefallenen Blättern übersät sind, die sich wie bunte Vogelfußspuren ausnehmen. Ich mache mit meinem Handy etliche Fotos. In Japan wird die Laubverfärbung mit geradezu kultischer Hingabe begrüßt und Ausflüge werden gemacht mit dem Ziel das schönste Blätterkolorit zu erhaschen, tatsächlich heißt die saisonale Leidenschaft momijigari, also “Jagd” auf die momiji, die herbstlich verfärbten Ahorne zu machen. Abends schicke ich ein Foto an Frau Toragoe mit dem Wunsch, dass der Anblick des Laubwerkes sie seelisch eine wenig aufbauen möge. Sie ist entzückt und mailt mir gleich zurück, die Zeiten der Kirschblüte und der Herbstfärbung seien wonnevoll und herzerfrischend. Und sie schickt mir eine Antwort auf die Frage, die ich ihr im letzten elektronischen Kassiber gestellt hatte: sie habe über zehn Jahre lang im Norden der Präfektur in einem Spital als Hebamme gearbeitet. Na, also! Während dieser Zeit habe sie aber auch Frauen, die an Krebs erkrankt waren, betreut, was für sie sehr hart gewesen sei, zumal sie nicht so recht wusste, was zu tun sei. Um sich in Palliativpflege kundig zu machen, sei sie im Sommer nach Kobe umgezogen und in “unsere” hospitäre Abteilung zur Ausbildung gekommen. Also war sie ungefähr so lange auf der Station wie ich!

Abends nach zwei guten Gläsern Rotwein und längerem Zaudern, funke ich meiner Schönheitssphinx wieder eine Nachricht. Ich würde so gerne einmal mit ihr ein ausführliches Gespräch führen, sie sei mir ein Rätsel, seit ich auf die Station gekommen war, hätte ich mich fragen müssen, was so eine Schönheit da verloren habe und ich sei nun einmal ein Wissenschaftler mit einer unverschämten Neugier, ich würde einfach gerne mehr über ihren Hintergrund erfahren, hoffentlich denke sie nicht, ich sei zudringlich. Trotz vorgerückter Stunde schickt sie mir unverzüglich eine Message: Sie bietet mir an, mich am kommenden Samstag nach ihrer Schicht zu treffen und fügt hinzu, sie sei ein wenig verwundert, dass ich mich für sie, die sie eine ganz gewöhnliche Person sei, derart interessiere.

In meiner Antwort weise ich sie zurecht: “Sie sind nicht einfach gewöhnlich – Sie stehen da als Schutzpatronin an den Eingangs- und Ausgangspforten des Lebens – ehrfurchtgebietend!” Dann entschuldige ich mich, dass ich samstags nicht könne, da ich da wegen rôhatsu, einer intensiven Übungsperiode zum Gedenken an das Erwachen Shakyamuni’s zum Buddha, im Zen-Tempel sei, aber donnerstags hätte ich Zeit. Sie erwidert, dass ich ein notorischer Schmeichler sei, aber sie sich dennoch über mein Loblied freue, außerdem würde ich nun ihr zum Rätsel, Zen-Tempel frequentierte ich, erstaunlich, was ich dort denn treibe. “Im Zen-Tempel mache ich Zazen, Sitzmeditation,” gebe ich trocken zurück und dann verabreden wir uns für Donnerstag abend. Ich habe ein Rendezvous mit der schönsten Frau im palliativmedizinischen Dienst Japans! Ihre Geschichte jedoch erzähle ich ein andermal oder verwahre sie versiegelt in einem Schatzkästchen in meinem Inneren.






Ausschnitt aus einem gleichnamigen Manuskript



Gekürzt erschienen unter:

“Die letzte Gaststätte. Ehrenamtlich im Hospiz”, V – Vorarlberger Zeitschrift für Literatur 22/23: Der Berg der Jahre, 2009, 118-130

















1 Die Namen sind alle geändert.

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